13 - Eigener Boden


"Wenns dem Esel zu wohl ist, so geht er aufs Eis" seufzte Karl, als er aufstehen wollte und ein Stich im Kreuz ihn wieder ins Bett zurückriss.
"So, hast du wieder die Hexe – oder hat sie dich? Ja, ja, Hochmut kommt vor dem Fall! Bleib liegen, kannst dirs ja jetzt leisten! Ausserdem regnets ja heute!"
Solche Anfälle (Hexenschuss sagte man dazumal noch dazu, die vornehmeren Bandscheiben waren wohl noch nicht entdeckt gewesen) hatte sie bei ihrem Karl in der Kriegszeit des öfteren erlebt; eine Rohkostkur vier Wochen lang, Ausmerzung aller faulen Backenzähne und systematische Abhärtung hatten sie ziemlich zum Verschwinden gebracht – sollte dieses Kreuz jetzt wieder sich einnisten? Aber es zeigte sich, dass es diesmal nicht ganz so schlimm war wie früher. Nach ein paar Tagen konnte er aus dem Bett kriechen und steif umherhumpeln, und eine Woche später fuhren sie alle wieder miteinander südwärts.
Als sie die Räder am Bach entlang schoben, auf dem kleinen Wildpfad, der die Felder von dem tiefer liegenden Auenland trennte, stiessen sie auf eine kleine Hütte, die früher nicht da gewesen war.
"Ja, da hat wohl die Schwester Kathy Konkurrenz bekommen! Sieht fast aus wie ihre Hütte, ist wohl aus der gleichen Baracke entstanden!"
"Aber das Dach ist doch ganz anders, schau doch, das ist doch ein sogenanntes Satteldach! Und so sonderbare Platten darauf, woraus sind denn die gemacht, Vater?" "Ja, solche hast du wohl noch gar nie gesehen? Das sind Schieferplatten – wo sind denn die wohl hergekommen, hier hat man die doch sonst nie!"
Sie schauten rings um die Hütte herum, aber niemand war zu sehen, die Tür verschlossen; so gingen sie weiter. Und da kam die zweite Überraschung: Schwester




Kathys Hütte war verschwunden! Also war es doch ihr Hüttchen draussen am Pfad, hatte sie vielleicht doch ein eigenes Stückchen Land erwerben können?
Die Aufklärung folgte bald; kaum hatte es sich die Familie vor der grünen Hütte bequem gemacht, da kam Kathy gelaufen, in der Hand trug sie ein paar Rettiche.
"Hier, die erste Ernte von eurem Land, Rettiche esst ihr so gerne" streckte sie diese den Korns entgegen.
"Wie geht es euch, ihr Lieben, habt euch lange nicht mehr sehen lassen hier draussen! Ihr habt euch sicher schon gewundert, wo meine Hütte geblieben ist – aber ich bin jetzt selber Grundbesitzer geworden, ein sehr netter Bauer hat mir ein Stückchen Land verkauft, wunderbare Lage, direkt am Bach, und ein netter Mann hat mir geholfen, meine Hütte dorthin zu versetzen ."
"Netter Mann, wen meinst du da, doch wohl den Seppl?" fragte Ilse dazwischen.
"Der Seppl ... ist schon ein netter Mann, aber ... na ja, der Seppl hat ja wieder zu seinem Vetter gehen müssen, hat es ja versprochen gehabt, vor vier Wochen schon, kriegt ja dort beim Bauern auch mehr zu essen als hier bei mir ... und überhaupt, so ganz das Richtige wärs ja doch nicht gewesen mit ihm auf die Dauer. Nein, beim Hüttenbau hat mir ein anderer geholfen, er arbeitet im Betonwerk vorn, ist Soldat gewesen, Feldwebel, das Ritterkreuz hat er ... ihr müsst ja die Hütte schon gesehen haben, ist sie nicht viel netter als vorher, mit dem Satteldach und den Schieferplatten? Die Platten hat er mir auch besorgt, und das Gärtchen, ist es nicht wundervoll? Die Bauersleute waren ja so nett, nur 150 Mark hab ich zu bezahlen brauchen für das Stückchen Land, ins Grundbuch eintragen kann mans später, haben sie gesagt, jetzt sind ja die ganzen Ämter noch nicht in Betrieb!"
"Und wie ists dir denn sonst gegangen hier draussen? Wars manchmal nicht recht einsam, seit der Seppl weg ist?" "Einsam... ich bin ja gerne einsam, - aber manchmal wäre mir noch mehr Einsamkeit lieber gewesen! Herrlich ists ja hier draussen, ich möchte mit keinem Städter tauschen, und ich hab mich ja glänzend erholt in diesem Sommer... aber wenn man so ganz allein in seinem Hüttchen liegt, und mitten in der Nacht klopft auf einmal einer an die Tür, und da ist draussen irgend so ein Russe oder Pole und ruft: du Frau machen auf, ich schlafen bei dir, ich haben Kaffee und Konserv und Sigarett, ich gebben dirr! Da kann man schon Angst kriegen – aber ich




hab mich nicht verblüffen lassen, hab geschrieen: Hau ab, ich hab eine Pistole, verschwinde, sonst schiess ich! Da ist er wirklich im Nu verschwunden..."
"Da hast du aber Glück gehabt", stellte Hedwig sachlich fest, "dass der Mann auch keine Pistole gehabt hat! Bei uns ist es ja einmal passiert, ganz im Anfang war das, da hat abends ein Ami an der Haustür im Gaswerk geläutet, und wie der Vater den Fensterladen aufgemacht hat, da zeigt er Konservendosen und allerhand Päckchen und fragt "Du haben das?" Wollt sich wohl anfreunden damit, aber der Vater hat den Laden wieder zugeklappt – weisst, wir haben doch die Patent-Läden, die man von innen mit einer Kurbel zumacht – und da hat der Ami auf der Strasse zu fluchen angefangen, und auf einmal hats gekracht –"
"Ja, da hat der doch geschossen mit seiner Pistole, ich zittere heute noch, wenn ich daran denke! Gottseidank hat er nur ein kleines Loch aussen im Verputz gemacht!" empörte sich Mutter Ilse.
"Ja, und wenn man so allein ist, dann ists natürlich noch schlimmer" fuhr Kathy in ihrer Erzählung fort. "Ein andermal sind sie am hellen Tag mit Wagen und Pferden gekommen, und hätten unsere ganze Hütte wegholen wollen! Das waren die Ukrainer, die in Erling geblieben sind, denen hab ich aber Bescheid gesagt! Hier auf unserem Grundstück haben sie dann auch nichts angerührt, aber drüben beim Lechner, da haben sie noch ganz ausgeräumt, seine eingelagerten Möbel haben sie alle weggeholt ..."
"Aha, das war das sogenannte ukrainische Komitee – da ist doch neulich so ein junger Mann zu mir ins Büro gekommen und hat gefragt, ob die Sachen mir gehörten, die sie da weggeholt hatten: zwei Matratzen und zwei Tomaten – Tomaten, sag ich, sind das sicher nicht gewesen – oh, ich nicht kennen gutt deitsche Sprak, sagt er da, ist für zu liggen, Kamara, nein, Kanapee – nicht wahr, das heissen Kanapee?
Also ob das alles mir gehört, wollt er wissen. Sie seien keine Diebe, sondern ehrliche Leute, sie wollten in Deutschland bleiben und arbeiten, wollten die kleine Kartonagenfabrik in der Lerchenau weiter betreiben, sich in Baracken Wohnungen einrichten, wollten Möbel kaufen oder mieten – Bürgermeister habe ihnen gesagt, sollten mich fragen.




Nun, ich habe ihn zum Lechner geschickt – ich habe es eigentlich ganz nett gefunden, dass sie überhaupt zu mir gekommen sind, in dieser Räuberzeit – aber der Lechner hat nicht mit sich reden lassen, hat verlangt, dass sie alles zurückbringen – er brauchts ja schliesslich selber, für seinen Neffen und Pflegesohn, der jetzt zurückgekommen ist."
Kathy meinte: "Jetzt fühl ich mich schon wohler, ein Stück näher bei den Menschen – wie hätte das werden sollen im Winter, wenn alles verschneit und verweht ist, die Bauern haben schon recht gehabt, wie sie mich gewarnt haben.
Manchmal, wenn es mir zu unheimlich gewesen ist, hab ich auch bei der Frau Galgenbauer geschlafen, das ist die alte Bäuerin mit dem kleinen Hof an der Bahnhofstrasse – auf Wiedersehen!" und fort war sie, und der Kornsche Familienrat konnte sich nun mehr mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigen.
Eins stand nun fest: der Entlassung aus den städtischen Dienst würde bald der Hinauswurf aus den Dienstwohnungen folgen, falls man nicht in kurzer Zeit von der Stadt wieder gebraucht würde. Unsern schönen Garten würden wir vermissen! Mit den nahrhaften Mistbeeten, Beerensträuchern, Obstbäumen, Erdbeeren! Wie viele davon hatten Korns selbst gepflanzt in 15 Jahren! Aber einen Teil davon – was nicht zu gross war – konnte man doch ausgraben und mitnehmen.

Die grosse Apfelernte im Gaswerk mit Hedwig und Moni






Nun galt es, das Stückchen Erlinger Wildnis recht bald nutzbar zu machen. Die Fläche umfasste fast 4000 Quadratmeter Wald und Wiese. Mit der Bodenbeschaffenheit hatten Korns Glück, gerade hier war fast überall eine fast knietiefe Sandschicht über dem Kies des alten Flussbettes. Das Grundstück wurde von Süden nach Norden schmäler, der breite südliche Teil war mit einem Dickicht bewachsen, das meist aus Weiden, Erlen, Liguster und Schlehdorn und ein paar jungen Birken dazwischen bestand. Daneben ragten einige knorrige Kiefern und zwei schlanke Fichten empor. Die grüne Hütte stand in der Mitte, südwärts davor hatten sie schon vor Jahren eine Lichtung als Spielplatz ausgerodet; den Hintergrund nach Norden bildete eine Pflanzung von jungen Fichten, die noch der alte Bauer ein paar Jahre vor dem Verkauf angelegt hatte und die jetzt schon hoch genug war, um das Land gegen Nord- und Ostwinde zu schützen.

Der Fluss mit der Auenlandschaft aus der Luft um 1950


Auf der Westseite floss hinter einem Schilfgürtel der breite, etwas schlammige Bach dahin, an der Ostseite lag hinter einer dichten Dornhecke, um einen Meter erhöht,




das weite ebene Acker- und Wiesenland, über das der Blick ungehindert bis zu der Hügelkette schweifte, auf der sich das Dorf ausbreitete.
Dazwischen auf der Ebene lagen nur einzelne Häuser an der Landstrasse verstreut, und am Bahnhof und an Fabriken vorbei donnerten die Eisenbahnzüge der Landeshauptstadt zu.
Der Plan für die Nutzung des Grundstückes war schnell gemacht: neben der grünen Hütte, zwischen den grossen Fichten, konnte man sich ein Häuschen denken – der trockene Altwassergraben, der sich von Süden nach Norden erstreckte, mochte einen flachen Keller abgeben.
Der Wiesenplatz musste bleiben, und für den Garten sollte zunächst einmal ein breiter Streifen im Osten und im Süden durch das Buschwerk gerodet werden.
Das gab zugleich einen gewissen Feuerschutz für Hütte und Haus – denn das hohe dürre Gras der Auen brannte im Frühjahr wie Zunder, und fast jedes Jahr gab es ein paar Flächenbrände, meist verursacht durch die Dampflokomotiven des Kieswerkes, nicht selten auch durch leichtfertige Zigarettenraucher.
Hinter der Hütte, mehr gegen den Bach zu, war auch noch eine ziemlich lichte Stelle; dort hatte Schwester Kathy ihr erstes Rettichbeet angelegt und man beschloss, auch dort Obstbäume und Beeren anzupflanzen.
Gegen diese grundsätzliche Einteilung hatte eigentlich niemand etwas einzuwenden, und so machte sich die Familie Korn alsbald an die Ausführung.
"Aber wir haben ja noch gar keine Bäume zum einpflanzen!" wandte Ilse schüchtern ein.
"Erst muss doch einmal Platz dafür gemacht werden!" meinte Monika.
"Ja, das wird so eine Arbeit werden – da werden wir alle noch einen ganz krummen Buckel kriegen davon!" seufzte die Hedi.
"Sei du ganz still, du bist die Kräftigste von uns allen!" schloss der Vater das Gespräch, holte Pickel, Schaufel, Spaten und Rechen aus der Werkzeugkiste, und bald war die Arbeit im Gang. Zunächst wurde mit dem Spaten, wo es ging, der Rasen abgestochen und in Stücken beiseitegesetzt. Meist ging das aber nicht, denn das Gras war überall mit starkem Wurzelwerk durchsetzt und einer musste das mühsam mit dem Pickel herauswühlen. Die anderen hielten unterdessen die Sträucher zurück,




die sehr die Neigung hatten, den Mann mit dem Pickel mit ihren dünnen Ruten ins Gesicht zu schlagen und wenn die Wurzeln genügend gelockert schienen, so wurde der Strauch mit "Hoo – Ruck" von der ganzen Familie herausgerissen. Danach galt es dann noch, mit dem Rechen das locker gewordene Erdreich nach den feinen Wurzeln zu durchwühlen, diese herauszulesen und schliesslich den Sand mit der Schaufel schön sauber beiseite zu räumen.
"Ein Quadratmeter ist geschafft" stellte Karl nach einer Stunde fest.
"Wir könnens ja! Und wie viel Quadratmeter müssen wir noch schaffen?"
"Wollen mal rechnen: fünf Meter breit, 20 und 40 und 10 Meter lang, das sind zusammen 70 Meter, mal 5 sind 350 Quadratmeter, und dazu hinter der Hütte noch – na sagen wir 10 mal 15 Meter sind 150 Quadratmeter – alles zusammen also noch 499 Quadratmeter, wenn wir den einen abrechnen, den wir schon haben! Ich glaube, wir müssen unser Arbeitstempo noch steigern, wenn wir das in diesem Jahr noch schaffen wollen! Also, zehn Minuten Pause, und dann an den nächsten Quadratmeter!"
Da man schon ganz schön ins Schwitzen gekommen war, benutzte man die Pause zur Erfrischung im Bach, danach legte man sich tief atmend auf den Rücken in die Sonne – und der nächste Quadratmeter wurde nachher schon in 41 Minuten geschafft!
Eine Woche lang ging es in diesem Tempo weiter; das Herbstwetter war beständig und nicht zu heiss, die Hände gewöhnten sich allmählich an das grobe Werkzeug, nur einige Wasserblasen an den Daumen gaben Anlass, um hie und da grössere Pausen einzulegen – was auch wegen der dürftigen Kalorienversorgung der Muskulatur ratsam erschien.
Um die Monatsmitte jedoch brachte die Post, die ganz allmählich wieder in Gang gekommen war, Karl einen kleinen grauen Wisch mit der Aufforderung, sich beim städtischen Bauamt zur Pflichtarbeit zu melden. Das war nun die Kehrseite der neuen Freiheit! Man war halt allmählich daraufgekommen, dass die Parteigenossen für ihre mehr oder weniger grossen Sünden Sühne zu leisten hätten: arbeiten sollten sie mit Pickel und Schaufel! Die Trümmer sollten sie wegräumen, die sie mit ihrer dummen Politik verursacht hatten! Das war in seinem Kern wohlberechtigt - in ihrer




Durchführung gestattete diese Forderung manche Variationen, und in unserer Stadt wählte man immerhin eine der vernünftigeren: man sagte sich nämlich, dass mit körperlicher Schwerarbeit höchstens bei den jungen, kräftigen Männern ein wirklicher Nutzen herauskommen könnte, die älteren Bürohocker und Federhalter-Akrobaten dagegen würden bei einer solchen Umstellung höchsten krank werden und dann müsste man sie arbeitslos durchfüttern. Also bestellte man sie lieber gleich in das Schulhaus, wo das Bauamt amtierte, und teilte den würdigen Inspektoren und Amtmännern, Bau-, Oberbau – und Studien-Räten, Sekretären und Offizianten dort mit, womit sie sich künftig nützlich machen sollten. Sie wurden beauftragt, als dienstverpflichtete Arbeiter mit 90 Pfennig Stundenlohn bezirksweise alle Wohnungen auszumessen und in ein Formblatt einzutragen. Wo noch Bombenschäden zu beheben waren, mussten sie die dafür nötigen Mengen an Ziegelsteinen, Zement, Kalk, Sand, Holz, Glas usw. schätzen, und bei restlos zerstörten Bauten war festzustellen, wie viele Kubikmeter Schutt abzufahren waren.
Zwei Mann wurden immer zusammen losgeschickt und gaben sich Mühe, die Arbeit so gut wie möglich zu strecken – so lang das Wetter gut war, ist das eine sehr gemütliche Tätigkeit gewesen. Von den Wohnungsinhabern wurden die Erheber allerdings nicht immer freundlich empfangen; Karl bekam es bald heraus, dass man sich auf jeden Fall ausser durch Herzeigen seines Ausweises durch den Satz "wir kommen nicht vom Wohnungsamt" einführen musste; trotzdem hiess es oft "zum 99. mal wird das nun ausgemessen!"
Karl bekam die langweilige Pflastertreterei bald satt, besonders wenn er die Gesellschaft eines recht missgelaunten Schicksalsgefährten erwischt hatte. Er zog es vor, allein zu gehen und bis zum Mittag so viele Formblätter auszufüllen, wie sie sonst zu zweit in einem ganzen Tag erledigt hatten, und sich den Nachmittag für Erling und für die wahre Arbeit an der Zukunft frei zu halten – acht Stunden bezahlte Arbeit waren auf diese Weise leicht an einem halben Tag abzuleisten, und die Rodungsarbeit in Erling musste nicht unterbrochen werden.







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