14 - Familie Trometer und die Pekinesen


Die Pflichtarbeit hat in der Innenstadt begonnen, wo es noch die meisten Trümmerhaufen gab und ganze Strassenzüge halb verschüttet waren und wo in den wenigen noch halb oder ganz stehenden Häusern die Menschen in drangvoller Enge eingepfercht hausten. Karl stand gerade vor einem vierstöckigen Haus in einer Nebengasse und überlegte, wie man dieses Haus sinn- und ordnungsgemäss in das Formblatt einzutragen hätte, da wurde er plötzlich von hinten angerufen:
"Ja, das ist ja der Herr Korn – Grüss Gott, Herr Korn, wie geht’s ihnen denn? Klettern sie immer noch nackig mit den Ski auf die Bäume hinauf?"
"Ja, der Herr Trometer! Nein, das machen wir zu Zeit gerade nicht – aber wie geht’s ihnen denn? Alles gesund und munter daheim?"
"Oh ja, uns geht’s gut, wir haben uns jetzt auch auf Rohkost umgestellt – roher Schinken, rohe Salami und so weiter, alles naturrein! Haha!"
Der kleine breitschultrige Mann schmetterte seine Kraftsprüche (die Karl nicht mehr ganz neu waren) mit erheblicher Lautstärke und frohem Gelächter in die triste Gegend. Seine Kleidung war ziemlich schäbig, was ja in jenen Tagen nicht besonders auffiel, auf dem Rücken trug er einen kleinen Rucksack.
"Und sie, was treiben sie alsdann hier in unserer berühmten Renaissance-Altstadt? Machen wohl kein Gas mehr? Was schauen sie denn den ramponierten Palast da so tiefsinnig an?"
"Ja, sie habens erraten, mit dem Gasmachen ists vorbei, und das hier ist mein neues Amt – muss helfen zum Wiederaufbau, ausrechnen, was man an Material braucht und wie viel Kubikmeter Schutt man wegräumen muss!"
"Aha, ich verstehe, das hier ist ein besonders schwieriger Fall, da hat man einen




Akademiker hergeschickt, einen Gasfachmann, weil die Bombe an dem einen Eck alle vier Lokusse weggerissen hat!"
"Stimmt genau, sie habens erfasst, deswegen steh ich hier – und was treiben denn sie selber, was machen die Patienten?"
"Die werden notgeschlachtet – und ich hab mir rechtzeitig Narrenfreiheit gesichert! Zuerst haben sie mich eingesperrt, die Amis, und dann haben sie mich zum Schlachthofdirektor gemacht!"
"Eingesperrt, ja warum denn, sie sind doch bestimmt kein Nazi gewesen?"
"Ja, das war, weil die Militärpolizei im Tank von meinem Wagen herumgeschnüffelt hat, und da war rotes Benzin drin – Amibenzin, weiss der Teufel, wie das hineingekommen ist, man kriegt ja manchmal von einem Kunden ein paar Liter – auf jeden Fall, sie haben mich erst einmal drei Tage ins Loch gesteckt und dann zu einem Major vom Stadtkommando gebracht, der wollt erst wissen, woher ich das Benzin hätte – sagt ich, das weiss ich nicht – dann wollt er wissen, ob ich ein Nazi wäre – hab ich gesagt: niemals, Herr Major, ich hab mir rechtzeitig Narrenfreiheit gesichert! Und da hat er sehr gelacht, er hat nämlich gut deutsch verstanden und hat als Student in München den Fasching mitgemacht, daher hat er das Wort Narrenfreiheit gekannt und wir haben uns noch gut unterhalten über den Fasching. Dann haben mich die MP's heimfahren müssen zu Weib und Kind – die hatten nicht wenig geheult die drei Tage, das können sie sich denken – und drei Tage später bin ich Schlachthofdirektor gewesen!"
Karl lachte – aber er hatte doch allerhand Respekt vor dem fröhlichen kleinen Mann, besonders wenn er sich daran erinnerte, wie unbekümmert dieser in der Zeit des schärfsten Gesinnungsterrors mitten auf der Hauptstrasse der Stadt das gleiche Wort von der Narrenfreiheit hinausgeschmettert hatte.
Lachend und unbekümmert war er damals weitergegangen.
Das war ganz in der Nähe jener Ecke gewesen, wo damals der Tierarzt Trometer im zweiten Stock eines grossen Geschäftshauses seine Praxis mit Wohnung und kleinem Tiergarten auf dem Balkon gehabt hatte, und wo er kurze Zeit später der Feuerhölle des grossen Angriffes mit seiner Frau, seinen drei Kindern und einem




Reisekorb voll junger Pekinesen entkommen war – so knapp entkommen, dass es dem achtjährigen Buben seine blonden Locken abgesengt hatte.

Der lockige Tierarztbub


"Ja, wo wohnen sie denn überhaupt, Herr Trometer, wir haben uns ja schon so lange nicht mehr gesehen?"
"Wohnen? Ja, das tun wir auch – Freiherrnstrasse 6, feine Gegend, da haben wir uns halt eingerichtet, so gut es geht. Sie wissen ja, nach dem Angriff damals hab ich ausser einem Korb voll junger Hunde nur ein Monokel gehabt und ein Auto, sonst gar nix – jetzt hab ich sogar zwei Autos und kein Benzin, und einen Haufen Möbel vom Tandler – besuchen sie uns doch einmal, meine Frau wird sich freuen – und die Kinder, sagen sie? Ja, denen geht’s auch gut – das heisst, die älteste, die Margareth, mit der stimmt was nicht – die Ärzte, die Idioten, die wissen und können ja nichts –"
Die ganze Munterkeit war aus Trometers Gesicht verschwunden, sorgenvoll starrte er auf den Boden.
"Also, auf Wiedersehen, Gruss zu Haus, und besuchen sie uns bald mal! Brauchens nicht einen Persilschein ? Wissens nicht, was das ist? Zum Weissmachen halt, zum Weissmachen der Nazis! Kann ich ihnen gern ausstellen! Servus, auf Wiederschauen!"
Er schüttelte Karl mit überschwänglicher Gebärde die Hand und ging eilig weiter, denn er hatte stets sehr viel zu tun – schon allein damit, dass er in den Gassen der



Stadt seine vielen Bekannten darüber aufklärte, was Kommunal- und sonstige Politiker und alle möglichen Leute alles verkehrt machten.
Karl fand bald Gelegenheit, die Trometers zu besuchen, sein jetziger Beruf liess ihm Zeit für solch kleine Abwechslungen. Der Tierarzt wohnte in einer früher einmal ruhigen Villenstrasse, nahe am Bahnhof, unten in einem dreistöckigen Haus mit klassizistischer Fassade – das allerfeinste, was man in den siebziger, achtziger Jahren des 19.Jahrhunderts gehabt hatte. Der schmale Vorgarten, über ein paar hölzerne Stufen aus einem Erdgeschossfenster zugänglich, wimmelte von jungen Pekinesen. Die aus dem Feuersturm Geretteten hatten sich gut vermehrt und ihre Zucht bildete die Freude und eine nicht unwichtige Einnahmequelle der Hausfrau.

Moni mit den lebhaften Pekinesenhunden


An der Wohnungstür hing ein Zettel:"Bitte stark klopfen!"
Karl tat das und alsbald erhob sich drinnen ein rasendes Gebell, nach einer Weile hörte man rasche Schritte. eine Stimme rief: "Still, Litaipeh - ruhig, Puntila, ruhig Kung



Fu Tse!" Das Gekläff liess nach, eine Frau in einem Trainingsanzug öffnete die Tür, umschwanzelt von zwei Pekinesen und dem Schäferhund Puntila.
"Oh, das ist ja nett, dass sie wieder einmal zu uns kommen! Treten sie nur ein – weg Li Tai Pe, weg Kong Fu Tse! – wir haben zwar ein bisschen Durcheinander!"
"Das sagen alle Hausfrauen, das weiss man ja" entgegnete Karl. Fast hätte er gesagt "das ist man ja bei ihnen gewohnt", aber er wollte die nette Frau Trometer nicht gleich so unhöflich anreden.
Frau Lotte führte ihn in ein grosses Zimmer, in dessen Mitte stand ein riesiger runder Tisch; darauf Blumenstöcke, ein paar Hemden, die auf Behandlung mittels des daneben liegenden Nähzeuges warteten; ein Messbuch aus dem 17. Jahrhundert, eine feine Porzellantasse mit Tee, ein paar Dutzend ältere Familienfotos, die gestrige Zeitung, eine dicke silberne Taschenuhr, und sonst noch allerlei.
An den Keksen neben der Teetasse pickte ein blauer Wellensittich herum; eine schneeweisse Katze sah ihm von der Lehne eines mit schäbigem roten Samt gepolsterten Sessels aufmerksam zu. Am Fenster standen Blumenstöcke, in einer Ecke ein grosser Käfig mit einigen zwitschernden Vögeln – und das Zimmer war, wie überhaupt die ganze Wohnung, erfüllt mit einem für städtische Nasen fast unerträglichen Geruch, hervorgerufen durch die vielseitige Tierhaltung dieses Haushaltes.
Frau Lotte zeigte Karl die Wohnung – sie umfasste noch drei Zimmer mit ähnlicher, aus Gelegenheitskäufen zusammengestückelter Ausstattung – und lud ihn dann zu einer Tasse Tee ein.
"Echter Tee, den haben sie doch sicher schon lang nicht mehr getrunken! Mein Mann hat da so seine Quellen – wollen sie Zucker dazu? Sollen sie haben – oh, was sag ich, jetzt ist die Dose leer, und in der Küche hab ich auch keinen mehr – das tut mir leid."
Karl versuchte es auch ohne Zucker, aber das kostbare Gebräu war ihm einfach zu bitter. Das Schönste an dem frisch aufgegossenen Tee war ja der Duft, der herrliche, der es sogar fertig brachte, das Zirkusparfüm der Wohnung für Minuten völlig zu überdecken. Und das übrige tat das lebhafte Gespräch, in das die beiden bald vertieft waren. Der Tierarzt selber war nicht zu Hause, und die drei Kinder würden




wahrscheinlich auch erst abends heimkommen, sie waren aufs Land gefahren, bei Verwandten Obst zu holen.
Frau Trometer war sehr interessiert an Karls Siedlungsplänen.
"Oh, wie gerne würde ich da mitmachen, zu gerne hätte ich auch so ein Grundstück vor der Stadt draussen. Aber wir müssen in der Stadt wohnen, damit uns die Kundschaft findet, und jetzt hat mein Mann ja noch den Schlachthof dazu – und ewig muss das Telefon bewacht werden, nie kann die ganze Familie miteinander weggehen –"
Sie seufzte etwas und dachte an die schönen Stunden zurück, die sie vor vielen Jahren hie und da mit draussen auf dem Gelände verbracht hatten, und an die Fahrten in Karls kleinem offenen Opel.



Als Monika noch ganz klein war, da konnte Ilse nicht einfach mit ihr ganze Tage über Land fahren. Da schätzte Karl Frau Lottes unbekümmerte, rasche Art; am Samstag abends um acht konnte er da bei ihr anrufen:
"Können sie morgen mit ins Gebirge fahren? – ja, mit den Kindern natürlich!"
"Muss mal meinen Mann fragen, ob er morgen daheim bleibt – ja, es geht! Wann fahren wir los? Sieben Uhr, gut, da muss ich jetzt schnell noch zu meinen Eltern,




einen Rucksack leihen – zu essen werden wir ja wohl noch genug im Haus haben. Also morgen früh um sieben Uhr, ich freu mich so!"
Am Sonntag früh fuhr also Karl mit der Hedi bei Trometers vor und wurde von den Kindern und dem kleinen Affen mit stürmischen Gebrüll begrüsst; alles Kleinzeug ausser dem Affen wurde auf dem hinteren Sitz verstaut, Frau Lotte nahm neben dem Fahrer Platz, und hinaus ging es in das schöne Voralpenland.

Karl hatte ein Talent, recht abgelegene und ungestörte Plätze zu finden, kleine Moorseen in der Moränenlandschaft, wilde Tobel mit sprudelnden Bächlein, Berge mit herrlichem Alpenblick, und Frau Trometer machte überall begeistert mit, wenn die Wege auch noch so wild waren. Sie war Lehrerin gewesen für Sport und neuere Sprachen, war gute Schwimmerin und Bergsteigerin und stets bereit, mit Selbstverständlichkeit Besonders zu tun – sei es, dass sie mithalf, Karls Opelchen aus dem Morast herauszuschieben, sei es, dass sie einen Sommer lang jeden Tag mit ihren Kindern ins Schwimmbad ging, ohne Rücksicht auf Regen und Kälte, sei es, dass sie in den ersten Jahren des dritten Reiches zahlreichen Juden, die auswandern wollten, englischen Sprachunterricht gab.
Auch auf das Gelände war sie in jenen Jahren gerne mitgegangen und hatte sich gefreut, wenn sich dort ihre Kinder ohne die lästigen nassen Badekleider tummeln konnten. Allzu oft kam das freilich nicht vor, denn der Weg war weit und die Freizeit knapp.
Frau Lotte war übrigens nicht die einzige Frau gewesen in jenen früheren Jahren, die gerne das textilfreie natürliche Leben mitmachen – besonders um ihrer Kinder willen – aber ihre Männer um keinen Preis mit auf das Gelände bringen konnten. Gerade die umgekehrte Lage, wie es später meist die Regel war! Der Grund mochte wohl der sein, dass viele von den damals jungen Frauen, aus der Jugendbewegung hervorgegangen, in den freien zwanziger Jahren die Entwicklung eines neuen Körpergefühls bewusst miterlebt hatten. Gymnastik, sei es nach Mensendieck, Loheland, Bode, Dalcroze oder wie die Systeme alle hiessen, war damals wirklich Gymnastik = nackte Körperübung! Das Sonderbare war nur, dass Frauen dieses neuen Lebensstiles sich gar nicht selten mit Männern ganz anderer Art fürs Leben verbunden hatten – ähnlich ist es übrigens öfters Männern, die radikale Lebens- und




Ernährungsreformer waren, mit ihren Frauen ergangen!
Von diesen und ähnlichen Dingen plauderten die beiden, auch davon, dass man trotz der über die Jahre hinaus andauernden inneren Verbundenheit immer weniger zusammengekommen war – der böse Krieg, ja, natürlich, und gerade, als man sich daran erinnerte, dass Ilse einst in einem kalten Winter den schwer erkälteten Herrn Trometer (der sonst unermüdlicher Radfahrer gewesen war) mit dem offenen Opelchen auf die Dörfer hinauskutschiert und dabei ungeahnte Einblicke in Landwirtschaft und Veterinärmedizin, einschliesslich der Trächtigkeitsbestimmung bei Kühen, gewonnen hatte – gerade als man bei diesem Thema angelangt war, da erscholl draussen ein ganz tolles Hundegebell, vermischt mit einem seltsamen Krächzen und übertönt von der dröhnenden und doch begütigenden Stimme des Herrn Trometer.
"Ah, ein Schäferstündchen" grinste er beim Eintreten und warf sein Rucksäckchen auf den Tisch. "Lassen sie sich nicht stören, die arme Frau hat so nicht viel vom Leben!"
Karl ging auf Trometers Ton ein: "Ja, die arme Frau hats wirklich nicht leicht mit so einem Mann! Aber sie wollen ihr sicher eine Freude machen und bringen ihr für heute Abend die Rohkost mit aus dem Schlachthof!"
"Nichts Rohkost! Das ist Futter für meine Patienten! Hören sie ihn nicht krächzen draussen, den Bussard mit dem gebrochenen Bein? Muss ihn schnell füttern, um 16 Uhr kommt Missis Applewood mit ihrem kranken Setter, und danach ..."
"Ach, jetzt trink erst mal eine Tasse Tee zur Beruhigung!"
Also trank man erst noch mal eine Tasse Tee mit, dann half man den Bussard füttern – nicht hier am Teetisch natürlich, sondern drüben in dem spartanisch einfachen Sprechzimmer, und dann kamen die inzwischen recht gross gewordenen Kinder nach Hause und hatten auch viel zu erzählen – und mit dieser Nachmittagsstunde war das ziemlich lose gewordene Band zwischen Korns und Trometers wieder fester geknüpft und Frau Lotte liess sich bald darauf endlich auch wieder einmal bei Ilse sehen.








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