12 - Die Entlassung
Eine sichtbare Auswirkung allerdings hatte doch ein Teil der Fragebögen. Fast alle Beamten und Angestellten und viele Arbeiter der Stadt erhielten Ende Juli ein amtliches Schreiben ausgehändigt, dessen Hauptsatz lautete:
"... als Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen... mit sofortiger Wirkung aus dem öffentlichen Dienste entlassen. Sie haben jedoch Ihren Dienst noch bis 31.8.45 auszuüben und Ihren Nachfolger einzuarbeiten."
Das war jetzt der Schlusspunkt! – nach einem Vierteljahr der Unsicherheit, der Bedrückung und der ganz leisen Hoffnung, es könnte sich doch noch alles zum Besseren wenden. "Was wollen sie denn eigentlich ohne die Fachleute anfangen?" hatten sich alle "Betroffenen" vom Werkleiter bis zum Hilfsmeister, Bürogehilfen und Reparaturschlosser immer wieder gefragt.
"Soll denn das Fräulein Unsinn vielleicht allein das ganze Werk leiten?“ so meinte man jetzt, als die im Blütenalter von 19 Jahren stehende Laborantin und "Malerin" Lilo Unsinn als einzige unter den zwanzig Beamten und Angestellten von dem schicksalsschweren Brief verschont geblieben war.
"Unsinn, zweimal Unsinn" murmelte der Herr Oberbaurat, gab sich einen Ruck, dass sein Rückgrat noch gerader wurde, und begab sich gemessenen Schrittes zu seinem Schwiegervater, dem Justizrat Kümmernis, um sich über die rechtlichen Aspekte dieses neuesten Unsinns Informationen einzuholen. Der Schwiegervater konnte ihm aber auch nicht viel helfen – Beamtenrecht, Bürgerliches Gesetzbuch samt allen Kommentaren, alles war wert-und machtloses Papier vor dem Recht der Besatzung, und der Grundsatz von der Würde des Menschen war noch nicht erfunden oder zum mindesten noch nicht bis in die unteren Regionen der Besatzungsbürokratie gedrungen. So beschloss Herr Staab, das ihm auferlegte Schicksal mit der ihm ganz
persönlich angeborenen Würde zu tragen und in Ruhe das Weitere abzuwarten.
Karl Korns Hoffnungen bewegten sich in der gleichen Richtung wie bisher: die Rehabilitierung, oder wie das abscheuliche neue Schlagwort hiess, "Entnazifizierung", der nur formellen Parteigenossen musste doch auch nach der Entlassung irgendwann einmal kommen, allein schon im Interesse des Gemeinwesens, das die ausgebildeten Fachleute dringend benötigte, besonders in den technischen Bereichen – also würde auch er erst einmal in Ruhe abwarten, was für Leute da als Nachfolger ankamen!
Sie kamen auch allmählich anmarschiert – mehr schon angestolpert musste man sagen. Die riesige Rüstungsindustrie – in Trümmer geschlagen, mit ihren tausendköpfigen Belegschaften über Nacht in nichts aufgelöst - sprudelte als erste Quelle in die staatlichen und kommunalen Beamtensilos.
Luftschrauben-Sachverständige, Strahltriebwerks-Konstrukteure, Kunststoff-Chemiker, Testpiloten, Statiker, Dynamiker, Doktor-Ingenieure – all die interessierten sich für die Stellen der Werkleiter, der Referenten und Betriebs-Ingenieure. Aber viele fühlen sich berufen, wenige sind auserwählt. Und das grosse Meer der zurückflutenden Armeen war noch in voller Unordnung und Auflösung, Millionen von Männern und auch Frauen lebten noch als Gefangene in der Ungewissheit in fremden Ländern – auch von dieser Seite war zunächst noch wenig Ersatz für die alten bewährten Techniker der Werke zu erwarten.
Als ersten schickte der Personalreferent der Stadt – ein alter Sozialdemokrat, der sich als Vertreter und Gastwirt durch das dritte Reich geschlagen hatte - einen Mann, der Korn ablösen sollte. Tadellose Erscheinung, Diplom-Ingenieur mit guten Papieren, aus der Industrie kommend, führte er sich zunächst zurückhaltend ein, beanspruchte nur ein Zimmer in Karls grosser Wohnung für sich und seine Frau. Ilse war gern bereit, ihm, der zunächst allein eingetroffen war, auch das Frühstück mit zu richten, und so sassen der neue und der abgesägte Betriebsingenieur des morgens friedlich bei dünnem Tee und mageren Marmeladebroten beisammen und fachsimpelten. Drei Tage ging das gut - vom vierten Tag an war Herr Maurer völlig stumm. Der Grund? Er sollte Nachfolger des Werkleiters werden und das hatte ihm offenbar die Sprache verschlagen. Alsbald stellte sich auch der wirkliche Nachfolger für Korn vor:
Herr Rossknecht, so hiess der neue Mann, machte aus seiner Herkunft und seinen vielseitigen Kenntnissen und Erfahrungen kein Geheimnis.
Frisch und fröhlich trat er in Herrn Staabs ruhig-vornehmes Büro ein. Nahm Platz:
" – ich bin der neue Ober-Ingenieur – Diplom-Ingenieur, versteht sich, selbstverständlich – war zuletzt im KZ – Zigarette gefällig – echte Camel –"
Herr Staab konnte ein gewisses Befremden über diesen neuen Mitarbeiter nicht unterdrücken, mit KZlern hatte er bisher wirklich nichts zu tun gehabt. Mit einiger Überwindung nahm er die Camel, hatte noch nie solch eine Ami-Zigarette im Mund gehabt – dann griff er zum Telefon:
"Herr Korn, kommen sie doch einmal herüber, ihr Nachfolger ist da!"
Korn trat ein und guckte sich den dürren Kerl an, der da in Herrn Staabs Besuchersessel seine langen Beine übereinander schlang und schon wieder am erzählen war.
" – natürlich, wie gesagt, Dipl.Ing., Maschinenbau und Bergbau – aber auch von der Pike auf in der Praxis! Das hat mein Vater von mir verlangt – Bergwerksdirektor im Saargebiet, Berg-Assessor, tüchtig, aber streng – hat von seinem leiblichen Sohn genau so viel an Pflichterfüllung verlangt wie vom letzten Kumpel! Wissen sie, was er mir gesagt hat? Du gehst jetzt drei Jahre in die Schlosserwerkstatt und machst die Gesellenprüfung, damit du später deinen Untergebenen auch wirklich alles vormachen kannst – das hat mir der alte Herr gesagt, als ich die Diplomprüfung hinter mir hatte – mit Note 1 selbstverständlich – aber nichts ist mir geschenkt worden, ich musste überall richtig ran!"
Staab und Korn sahen einander verwundert an, doch versagten sie sich aus Höflichkeit jede Bemerkung.
"Meine erste Stellung habe ich dann bei Junkers in Dessau angenommen, als Chefkonstrukteur – jaja, natürlich im Flugzeugbau, habe mit Professor Tank zusammengearbeitet, die gute alte Ju 52 ist so gut wie ganz mein Werk gewesen, das kann ich wohl behaupten –"
" – sehr interessant, und sind sie denn bis zum Ende bei Junkers geblieben?" wagte Herr Staab zu fragen – mit solchen Kapazitäten ins Gespräch zu kommen, das konnte ja nie was schaden, auch wenn man von deren Fachgebiet selber wenig
Ahnung hatte.
"Ach nein, wo denken sie hin – ich bin vielseitig, so eine Art Universalgenie. Sagte ihnen ja schon, war zuletzt im KZ Buchenwald, waren schlimme Zeiten – na, für mich persönlich wars, im Vertrauen gesagt, nicht ganz so schlimm – hatte gute Beziehungen, konnten technisch nicht ohne mich auskommen – Verbrennungsöfen und so – hatten manchmal ihre Mucken – dafür hat mich der Lager – Fourier auch schon nicht verhungern lassen – war ja auch mit Udet gut bekannt, und auch bei Göring war ich mal zum Essen eingeladen gewesen – früher natürlich, als ich noch bei Junkers war –"
" ! ? ?"
"Wie ich ins KZ gekommen bin, das möchten sie natürlich auch gerne wissen? Ja, das ist eine lange Geschichte – war damals Bergwerksdirektor im Rheinland, riesiger Braunkohlen-Tagebau, Stellung hatte mir mein alter Herr verschafft – aber nicht dass sie denken, das wäre nur Protektion gewesen – nein Leistung, Leistung, meine Herren, darauf sehen diese Kohlenkönige, Stinnes und Thyssen und wie sie alle heissen. Also, da bekam ich Differenzen mit dem Kreisleiter, wegen Luftschutz und solchem Blödsinn.
Aber sie werden mich jetzt wohl entschuldigen, habe eine wichtige Besprechung in der Stadt!"
Er erhob sich in seiner ganzen Länge und verliess mit freundlichem Lächeln und mit seltsam eckigen Bewegungen das Zimmer.
Wiederum war es an den beiden abzulösenden Werksleitern, einander kopfschüttelnd anzusehen.
"Wie alt ist denn eigentlich der junge Mann?" fragte schliesslich Korn.
"Einunddreissig, sagt er!"
"Ein Wunderkind! Rechnen sie nach: vier Jahre Studium, drei Jahre Schlosserlehre, ein paar Jahre Chefkonstrukteur bei Junkers, ein paar Jahre Bergwerksdirektor, ein paar Jahre Buchenwald! Der muss ja mit 14 Jahren das Abitur gemacht haben!"
Das Wunderkind hatte auch weiterhin viele wichtige Besprechungen in der Stadt, man sah ihn selten im Werk, ebenso den künftigen Chef. Der Parität wegen war Herr Rossknecht im ersten Stock beim Werkleiter einquartiert worden, samt Frau und kleinem Töchterchen – Frau Staab musste ihr Bügelzimmer abgeben, das machte ihr
Kummer, und überhaupt – solche Leute! Bald lagen sie einander selig in den Armen, bald warfen sie einander Teller und Tassen nach – Frau Staabs zum Glück nicht gerade allerbesten, aber doch dritt- oder viertbeste Tassen!
Korns machten sich um solche Dinge weniger Sorgen, bis jetzt war ja alles gut gegangen – der Salat, den man auf die Einmachgläser gepflanzt hatte, war prächtig gediehen und die Gläser und Dosen waren nach der Salaternte unversehrt wieder ans Licht bekommen; die Fotogeräte auch wohlerhalten, wenn auch mit etwas verschimmelten Lederhüllen aus dem Rohrkeller geholt. Die Bücher standen alle wieder in den Schränken und die verdächtigen Schriften waren aus ihrem Versteck unter den Ziegeln des Gartenhäuschens an legale Orte zurück geholt worden – warum sollten sich nicht auch die wichtigeren Affären wieder einrenken?
Karl war es allmählich immer gewisser geworden, dass die Ansiedlung auf dem ihm wie durch eine himmlische Fügung verbliebenen eigenen Stückchen Land die Zukunftsmöglichkeit für seine Familie sei. Er rechnete fürs erste einmal mit der ihm auf jeden Fall gerade noch zugebilligten Existenz eines einfachen Arbeiters und mit dem Morgentauplan, der Deutschland zum Kartoffelacker machen sollte; also entschied er sich für ein einfaches Leben in der Wildnis.
|
|