11 - Freut euch des Lebens


Karl hatte Sorgen, das hatte Kathy richtig beobachtet. Seine Familiensituation war ja nicht schlecht, wenn mans richtig ansah und das eigene Schicksal mit dem Millionen anderer verglich. Die Familie überlebte und auch von der näheren Verwandtschaft waren allmählich auf dem üblichen Botenweg Nachrichten gekommen, dass es ihnen der Zeit entsprechend gut geht. Die grosse Wohnung war unbeschädigt, nur zwei Zimmer – das war nicht mehr als recht und billig – hatte man abgegeben an ein älteres Ehepaar aus der Nachbarschaft, das sein Haus den Besatzungstruppen hatte räumen müssen. Und die Ernährung?
Na ja, Brot hätte man schon mehr vertragen können; die lächerlichen 100 Gramm Fleisch in der Woche konnte man auch als Vegetarier noch mit in Kauf nehmen, auf dieses bisschen Schlachten kam es auch nicht mehr an, wo rings in der Welt das Schlachten auch unter den Menschen noch gang und gäbe war. Die Hedwig hatte sogar noch etwas zugesetzt an Fettpolstern, so gut hatte man ihr beim Arbeitsdienst das Knödelessen beigebracht. Eine grosse Hilfe für die Hausfrau waren die Erzeugnisse des Gartens und das Eingemachte aus den Vorjahren. Schliesslich gab es für die Familie Korn noch eine ständig fliessende kleine Fettquelle, die wurde gespeist aus den Raucherkarten: seit ihrer Einführung waren diese "Wertpapiere" (oder richtig genommen Unwertpapiere) stets sogleich zum Milchhändler gewandert, der als rühriger Geschäftsmann immer schnell Tabak in Milch und Butter zu verwandeln verstand.
Auch mit der Besatzung wusste man sich abzufinden, und trotz der "no fraternisation"- Befehle bahnten sich da und dort freundschaftliche Beziehungen zu den Amerikanern, von denen ja auch viele deutscher Abstammung waren, an. Nicht allerdings mit den acht Soldaten, die man als Wächter über das im Werk eingerichtete




Kohlenlager einquartiert hatte. Dafür hatte man, vielleicht aus Gründen der Tarnung, kohlschwarze Menschen ausgesucht. Die hausten in dem Schlafraum, den man früher neben der Garage für die Luftschutzwachen eingerichtet hatte; hie und da sah man auch einen von ihnen in den "Schutzraum" hinabsteigen, den man daneben in Form eines ausgedienten Dampfkessels in die Erde versenkt hatte. Was die wohl da drunten zu suchen hatten? Herr Korn konnte es sich nicht verkneifen, gelegentlich auch einmal diesen Raum seines Dienstbereiches zu inspizieren, als gerade keiner von den Schwarzen in Sicht war, und entdeckte dort unten eine Stätte der Sinnenlust, allerdings in bescheidenster Ausstattung. Als seine Augen sich an das von roten und blauen Glühbirnen notdürftig erhellte Dunkel gewöhnt hatten, erspähten sie eine Gestalt auf einem Matratzengestell, die trotz beflissener Verhüllung typisch weibliche Merkmale nicht verleugnen konnte. „Aha, eine für jede Soldateska dringend benötigte Versorgungseinrichtung“ dachte sich Karl und stieg schleunigst wieder die Treppe hinauf, denn er scheute es, unnötigerweise in irgendwelche Auseinandersetzungen mit Leuten verwickelt zu werden, die schon durch ihre Bewaffnung jederzeit über die schlagkräftigeren Argumente verfügten.
Dass es viele Amerikaner gab, die mittels grosszügigen Einsatzes von Schokolade, Neskaffee, Zigaretten und anderen Genussmitteln freundschaftliche Beziehungen zum jüngeren weiblichen Teil der deutschen Bevölkerung aufgenommen hatten, war ja bekannt und Gegenstand teils gehässigen, teils neidischen Tratsches. Die Männer dachten dabei meist grosszügiger als die Frauen – und wirklich, war nicht so manchem armen, eltern-und heimatlos gewordenen Mädchen auf diese Weise das tägliche Brot, ja darüber hinaus manchmal eine gewisse Geborgenheit gesichert worden? Was sich sonst noch dabei entwickelte, wie die sprunghafte Ausdehnung der Geschlechtskrankheiten – "Veronika Dankeschön" abgeleitet aus V.D.=veneral diseases nannte man die gefälligen Mädchen – und die rücksichtslosen Razzien der Militärpolizei auf Frauen und Mädchen, die in den späten Abendstunden mehr oder weniger zufällig in der Bahnhofstrasse angetroffen wurden – das alles veranlasste nach wie vor die meisten weiblichen Wesen zur grössten Zurückhaltung gegenüber den Soldaten. Es war aber bemerkenswert – wenigstens stellte Karl das in seinem Bekanntenkreis fest – dass das freieste Auftreten in dieser Beziehung ehemalige




BDM (= Bund deutscher Mädchen)– Führerinnen an den Tag legten; von diesen hatte so manche sehr bald ihren festen "Ami-friend".
Auch Dolmetscherinnen und sonstige Bürohilfen waren gesucht; so kam zu Hedwig eines Tages die Isolde Otto – zwar keine Führerin gewesen, aber sonst nicht schüchtern – mit einem amerikanischen Major, der dringend eine Dolmetscherin brauchte – aber Hedwig hielt sich trotz siebenjährigem Englischunterricht nicht für fähig, eine solche Aufgabe zu übernehmen, und schickte die Dolmetscher-Sucher zu einer anderen Schulkameradin.
Der bebrillte schwarze Sergeant, der die Kohlenwächter kommandierte, hätte auch gern mit der Hedwig angebandelt; er erzählte ihr mit lebhaften Gesten von seiner Heimatstadt Chicago und dass er dort Taxifahrer sei, schenkte ihr auch mal eine Banane oder gar eine Tafel Schokolade, und fragte sie dann eines Tages, ob sie denn nicht mit ihm nach Chicago kommen möchte.
"No" sagte Hedwig.
"Why not?" der Sergeant.
"Because you are a negro" antwortete Hedwig geradeheraus.
Aber da ging der Sergeant in die Luft! Wie böse funkelten seine Augen hinter der Brille, und was für eine Propagandarede liess er da los: über die Gleichberechtigung der Rassen und über die allgemeinen Menschenrechte, und was wohl so einem verdammten Nazi-Girl das Recht gebe, sich über ehrenhafte farbige Bürger der Vereinigten Staaten erhaben zu fühlen? Er fühlte sich wirklich sehr in seiner Ehre verletzt und es war ihm gar nicht recht, dass die in USA mühsam sich anbahnende Gleichberechtigung der Rassen – durchgesetzt bis jetzt wirklich nur in der Berechtigung, sich gleich anderen Bürgern in Uniform totschiessen zu lassen – von so einem dummen Mädel einfach missachtet werden sollte! Hedwig wurde sehr nachdenklich, brachte kein Wort mehr heraus und flüchtete vor der Wut des Sergeanten zu den Eltern.
"Ja, was soll man denn da machen? Mit Bananen und Schokolade wird’s halt jetzt aus sein – ein Diplomat bist du so wenig wie ich!" schmunzelte der Vater, und die Mutter meinte, Hedwig hätte halt ihre Ablehnung ein bisschen anders begründen sollen – die Wahrheit sagen sei schon gut, aber so ganz gerade heraus sei eben manchmal nicht am Platze - aber vielleicht könne der Vater einmal mit dem Sergeant



reden und ihm erklären, dass Hedwigs "No" nicht so böse gemeint gewesen sei.
Ja, ihr habt gut reden, dachte sich Hedwig, diplomatisch soll man sein, und auf englisch noch dazu!
Da hattens die kleineren Kinder leichter: die spielten miteinander, als ob ewige Ferien wären, fanden alles höchst interessant, die schwarzen Soldaten so gut wie die Panzer und die fremdartigen Autos und den Kaugummi. Wenn der Jim aus Texas seine Freundin Mary im Pförtnergebäude besuchte – hoch zu Ross, wie es sich für einen Texaner gehört – und sein Freund Jack vor dem Tor die beiden schönen, in einer Fabrikantenvilla beschlagnahmten Halbblüter behütete, so sammelte sich schnell ein Häufchen Buben und Mädchen um ihn. Dauerte der Besuch droben lange, so schwang sich der Jack auch mal in den Sattel, gab einem Buben das zweite Ross zu halten und ritt den Zuschauern was vor im Cowboy-Stil, und wenn er besonders gut aufgelegt war, dann durfte auch einmal einer von den grösseren Buben an seiner Seite einen Galopp riskieren. Als Monika dabei mit so begeisterten Augen zuschaute, da winkte er ihr freundlich zu "He, girl! Make a ride? Okay!" und half ihr in den Sattel seines eigenen Pferdchens – und dann gings los, einen Hundertmeterlauf machte der Jack neben seinem Pferd, um der Moni den Genuss eines schneidigen Galoppes in Sicherheit zu verschaffen! Solche Kavaliere konnten die Texaner sein!
Ja, das war alles schön und gut, die Gegenwart wäre zu ertragen gewesen – aber die Zukunft, das grosse dunkle Unbekannte? Das wars, das Karl und Ilse und auch der bedächtigen Hedwig zu schaffen machte. Es gab da immer wieder einmal kleine Ereignisse, die einem zeigten, was einem alles blühen konnte:
Da war zum Beispiel eines Tages der lustige junge Bernhard – jener der Geländefreunde, dem Karl den letzten Kriegsbrief geschrieben hatte – mit einem Lastwagen angekommen. Er war mit seiner Familie in dem Gebirgsdorf hängen geblieben, wo ihn das Flugzeugwerk gebraucht hatte, und nun hatte ihn der Bürgermeister mit noch zwei Männern losgeschickt, um in Niederbayern Kartoffeln für die Gemeinde zu besorgen. Er hatte sich bei der Gelegenheit in der Stadt nach seiner Wohnung umzusehen, die inzwischen anderweitig vermietet worden war; aber in acht Tagen sollte sie frei werden und da wollte er mit Kind und Kegel wieder einziehen.




Nicht wenig erstaunt waren dann die Gaswerksleute, als der Bernhard eines abends wieder vor dem Werk stand, mit einem Lastwagen, der voll mit Möbeln beladen war. Was war da geschehen? Die Wohnung war wohl geräumt worden, aber danach war sofort der ganze Block von der UNNRA, der Hilfsorganisation für die Verschleppten, beschlagnahmt worden, und Bernhard stand mit seinen Sachen auf der Strasse. Zur Not konnte er mit Frau und Tochter bei seinem Schwager unterkommen, aber die Möbel? Da half weiter nichts, die ganze Familie Korn griff zu, und abends um 10 Uhr war alles im Dachboden verstaut, und sogar Professor Heinkels Volkswagen, in handliche Teile zerlegt und in Kisten verpackt, hatte ein Obdach im Gartenhaus gefunden.

So konnte es einem ergehen! Andere Bekannte wieder waren von den Amis in "automatische Haft" genommen worden, weil sie irgend ein Amt in der Partei gehabt hatten, wie jener frühere Direktor der Stadtwerke, oder einfach, weil sie höhere Beamte gewesen waren, wie der Doktor Feldmüller vom Landwirtschaftsamt, dessen zierliche Frau so eine leidenschaftliche Hitlergegenerin gewesen war! Das schlimmste an diesen Fällen war, dass die Familien meist viele Monate lang trotz aller Bemühungen keinerlei Nachricht bekamen, wo ihre Männer eigentlich hingeraten waren.

Da waren immerhin die anderen noch besser daran, die vorläufig nur den ellenlangen Fragebogen der Besatzungsmacht ausfüllen mussten, in dem die unmöglichsten Dinge gefragt wurden.

Wann aber jemand diese Fragebögen alle bearbeiten würde, das wussten die Götter, vorläufig halfen sie ganz und gar nichts.










dreifels ag