10 - Schwester Kathy fasst Fuss


Da sauste an einem schönen Vorsommertag Kathy Höfle auf der geraden Landstrasse südwärts. Ihr Rad – das kostbarste Stück ihrer geringen Habe – funkelte in der Sonne, und auch ihr Gemüt reflektierte die warmen hellen Strahlen. Die letzten Jahre hatten ihr schwer zugesetzt, und auch augenblicklich hatte sie, nüchtern betrachtet, nicht allzu viel Ursache, froh in die Zukunft zu sehen.
Schwester Kathy – so wurde sie von ihren meisten Bekannten genannt - war durchaus nicht der Typ einer Krankenschwester, so wie man ihn sich gewöhnlich vorstellt. Sie trug auch keine Schwesterntracht, weder die Vermummung der Klosterschwester noch den strengen Anzug der Diakonissin – eher war sie früher stolz gewesen, als sie das Abzeichen der NS-Schwesternschaft hatte tragen dürfen, aber diese Zeiten des Stolzes auf das Hakenkreuz waren jetzt vorbei. Zu vieles hatte sie erleben müssen, was ihren jugendlich begeisterten Glauben an den Führer und an seine Heilsbotschaft gründlich zerstört hatte. Zuerst, nach ihrer Ausbildungszeit, war sie als Gemeindeschwester in ein Dorf im Gebirge gekommen, dann Versetzung in die Stadt, als Werkschwester in einem grossen Flugzeugwerk. Dort war nun ja der Dienst im Grunde genommen ganz nach ihrem Sinn gewesen – helfen und heilen, dazu war mehr als genug Gelegenheit! Aber wie wenig konnte man ausrichten gegenüber dem Elend, das täglich auf einen einströmte! – das graue Gewimmel der schlecht genährten und missmutigen Arbeitsmenschen, der Ausländer, Strafgefangenen, kahlgeschorenen Jüdinnen, der Jammergestalten aus dem Konzentrationslager, in Scharen dahingetrieben von Uniformierten mit schussbereiten Gewehren – dazu Luftangriffe mit vielen Toten und Verletzten, öffentlich vollzogene Exekutionen an Verzweifelten, die Rohheit der unteren und die kalte Herzlosigkeit der oberen Sklaventreiber – das alles zermürbte Kathys von Natur aus frohes Wesen.




Es trieb sie allmählich fast in einen Zustand der Verzweiflung hinein, als das Werk, durch die Angriffe zum grössten Teil zerstört, immer wieder verlagert wurde, jedesmal in primitivere und schlimmere Verhältnisse. In einem als unterirdische Fabrik ausgebauten Strassentunnel in Württemberg hatte sie schliesslich das Ende erlebt. Die entfesselten Sklaven schlugen zurück, es gab von neuem Blut und Gewalttaten; Frauen waren Freiwild, sie mussten sich verkriechen und mit List und Schläue durchschlagen. Immerhin, Kathy hatte manchem geholfen, und so half auch ihr mancher wieder. Ein französischer Arzt setzte sie gleich in den ersten Tagen als Hilfskraft bei der Verpflegung der Fremdarbeiter ein, bald auch als seine eigene Helferin in der Praxis. So war sie wieder in ihrem eigenen Beruf tätig, hatte Unterkunft und Verpflegung, und, was fast noch wichtiger war, sie bekam einen Ausweis, der sie wenigstens ein wenig vor den Zudringlichkeiten und Gewalttaten gewisser Soldaten schützte.
Die früheren schönen Zeiten schienen ja nun in unendliche Ferne gerückt zu sein. Zunächst einmal wohnte sie in einem nahegelegenen Dorf, wo entfernte Verwandte sie in ihrem von Bombenflüchtlingen und sonstigen Heimatlosen überfüllten Hause nicht gerade begeistert aufgenommen hatten. Der Traum von der Freiheit und dem menschenwürdigen Leben – wie war er nun zu verwirklichen? Ein eigenes Zimmerchen, gar ein kleines Häuschen auf eigenem Boden – wie konnte man dazu kommen? Das Auenland draussen am Fluss, konnte man sich nicht da ansiedeln? Die alten Freunde, sollte man sie nicht fragen?
Ach was, die hatten sicher andere Sorgen: Karl, der Vorstand, war sicher als Parteigenosse schon hinausgefeuert, und wer weiss, wo die anderen steckten – Kathy war für unmittelbares Handeln, an den Fluss zog es sie unaufhaltsam!
Über die Bahnstrecke, deren früher so glänzende Schienen schon dicken Rost angesetzt hatten, an dem stillgelegten Kieswerk vorbei fuhr sie langsam den Weg zum Fluss hinunter. Keine Menschenseele war zu sehen, nur die Bienen summten um die Blüten von Weissdorn und Traubenkirsche. Kathy schob ihr Rad auf dem schmalen Uferweg entlang. Der Fluss war noch der gleiche wie einst. Die





Schneeschmelze im Gebirge war offenbar schon fast beendet, das Wasser umspülte hellgrün, klar und durchsichtig die mächtigen Granitbrocken des Uferdammes.

Uferbefestigung


Kathy legte das Rad hinter einem Busch nieder, zog die Schuhe aus und setzte sich auf den untersten grossen Stein. Sie bekam Lust, es trotz des noch recht frühlingskalten Wassers mit dem Schwimmen zu versuchen! Wer weiss wie lange war sie nicht mehr geschwommen!
Kathy rutschte ins Wasser und stiess sich kräftig vom Ufer ab. Rasch glitt das steinige Ufer vorüber, herrlich, so schwerelos sich tragen zu lassen!
Kleine Wirbel drehten sich geheimnisvoll am Ufer, ein Entenpaar erhob sich plötzlich mit heiserem Geschrei und lauten Platschen aus einem Schilfdickicht, dumpfes Rauschen kündete die Nähe des nächsten Wehres an – Zeit zu landen. Kathy drehte sich zum Ufer, schräg aufwärts gegen den Strom gerichtet, wie man ihr das vor Jahren gezeigt hatte; aber der Zug ihrer Arme war zu schwach, dazu ängstigten sie die merkwürdigen kleinen Wirbel – pfeilschnell, so kam es ihr vor, schossen Steine und Sträucher dicht an ihren greifenden Händen vorbei, ein Stein stiess sie schmerzhaft ans Knie – unheimlich doch, solch ein Bergstrom.




Da plötzlich eine beruhigende Stimme:
"Ja Kathy, was machst du denn hier?" und eine kräftige Hand, die mit einem kurzen Ruck die Schwimmerin sicher an Land brachte.
Hand und Stimme gehörten zu einem jungen Mann, der schon lange auf dem Steindamm gesessen war und Kathys Schwimmkünste beobachtet hatte.
"Grüss dich, Seppl – schwimmen tu ich, hast du auch Lust dazu?"
"Schwimmst du nochmal mit mir herunter?"
"Gern, es ist ja so herrlich" lachte Kathy und schüttelte sich die Tropfen aus ihrem offenen langen Haar.
Flink eilten sie hintereinander am Ufer aufwärts – niemand war weit und breit zu sehen, nur am anderen Ufer stand reglos ein Angler.
Seppl ging mit einem Hechtsprung ins Wasser, Kathy auf ihre bewährte Art.
Die Wasserfahrt war noch schöner als das erste Mal; alle Angst war weg, da diesmal Seppl dicht vor Kathy auf den Wellen sich drehte. Bald waren sie wieder an der vorigen Stelle des Ausstieges angelangt, Seppl hatte mit ein paar kräftigen Schwimmstössen die Steine erreicht und streckte seine linke Hand weit hinaus übers Wasser – gerade recht, um Kathy noch an den Fingerspitzen der rechten Hand zu fassen, bevor die schnelle Strömung sie vorbeigerissen hätte.
Seppl war ziemlich schweigsam – das wusste Kathy noch von früher her, als sie ihn ein paar Mal auf dem Gelände getroffen hatte. Er sei verlobt, hatte es damals geheissen, aber sein Mädchen bekam man niemals zu Gesicht – sie hatte wohl nichts für FKK übrig gehabt. Ob er wohl noch mit ihr verlobt war?
Kathy begann zunächst einmal von sich selber zu erzählen. Kurz schilderte sie ihm die Not und Wirrsal der letzten Jahre. "Heute ist der erste Tag, an dem ich mich wieder als Mensch fühle – lange hätte ichs nicht mehr ausgehalten, dieses Sklavendasein, dieses Verbrechertum oben und unten – von Untermenschen haben sie immer geredet, selber dabei das Unterste, was man sich überhaupt denken kann von Menschen. Von einer Ecke in die andere haben sie einen gesteckt, Gehilfe von Räubern und Mördern hat man sein müssen - Galgen haben sie einem vor dem Fenster aufgerichtet!
Aber jetzt ist Schluss damit! Meine eigenen vier Wände will ich endlich einmal haben – kann noch so klein sein, nur ein Hüttchen im Walde – und ein paar Quadratmeter



Boden dazu, dass ich meinen Schnittlauch und meine Kartoffeln anbauen kann – wir sollen ja sowieso alle Kartoffelbauern werden, sagt der grosse Herr Morgentau in Amerika! – Seppl, weisst du mir keinen Bauern, der mir ein Stückchen Land hier in den Auen verkauft? Ich will gut bezahlen, hab ja Geld auf der Sparkasse, und ich will mich ja den Menschen nützlich machen – schau das viele Elend da draussen auf den Dörfern, eine Krankenschwester und Heilkundige findet immer zu tun – nur erst einmal Boden unter den Füssen müsste man haben –"
Seppl nickte : "Ja, das sind Probleme heute, nicht für dich allein, für mich auch! Und für Millionen andere noch! Was soll ich zum Beispiel anfangen? Statiker im Flugzeugbau bin ich jetzt Jahre lang gewesen, das hab ich gut gelernt, aber sonst nicht viel – meinst du, der Herr Professor Heinkel wird wieder einmal Tragflächen zu berechnen haben für mich? Heut muss ich mich glücklich schätzen, wenn mein Vetter in Hinterfinning mich Mist fahren lässt und mir dafür Kraut und Kartoffeln zu essen gibt – aber heut bin ich ihm ausgerückt, hab in der Stadt noch was zu holen gehabt von meinen Kleidern, und da hats mir keine Ruh gelassen, musst mich mal in Erling umsehen!"
"Seppl, hilf mir doch beim Aufbau!"
"Helfen – ja, helfen will ich dir gern, wenn ich erst weiss, wozu und womit! Wo wohnst du denn überhaupt im Augenblick?"
"In Buxtehude, in Dummfrechhausen – weit da hinten in einem Dorf, bei entfernten Verwandten, drei Stunden hinter dem Mond – seit drei Tagen, aber die längste Zeit hab ich dort gewohnt, das sag ich dir – am liebsten packte ich heut noch mein Bündel und suchte mir einen anderen Unterschlupf!"
"Anderen Unterschlupf? Ja, da wüsst ich dir schon was. Bist du denn noch nicht auf dem Auenland vom Karl gewesen? Das grüne Hüttchen steht ja noch, hab ich gesehen, ein paar Strohsäcke liegen auch noch dort, das wäre ja ein Unterschlupf, für ein paar Wochen auf jeden Fall! Allerdings, ich ahn so was, der Karl wird ihn vielleicht bald selber brauchen können – aber vorläufig müsste es ja gehen!"
Nach einer Stunde schien alles klar und greifbar: Kathy wollte sich sofort in Karls Hütte niederlassen und sich in Erling nach einem Stückchen Land umtun, Seppl dagegen vorläufig wieder zu seinem Vetter nach Hinterfinning fahren und dort recht




fleissig helfen, denn man wusste ja kaum, wo man das Nötigste für den Magen hernehmen sollte – in zwei oder drei Wochen sollte ihm dann Kathy schreiben, wie es mit dem Projekt stand – ach Gott, schreiben, es gab ja keine Post! Also selber hinfahren und Bescheid geben, und ihn herholen zum helfen.
"Und jetzt schauen wir uns einmal um drüben auf dem Auenland – wo der Hüttenschlüssel liegt, das weiss ich."
Die Hütte erwies sich als bewohnbar, die des Nachbarn dagegen stand offen und ziemlich ausgeräumt. Und dann setzte Seppl eine geheimnisvolle Miene auf.
"Komm, jetzt zeig ich dir noch was!"
Er führte Kathy zurück über die Bahn, dann an den rostigen Ladegeleisen entlang. "Da," er wies auf grosse Stapel von Brettertafeln, Dachbalken und anderem Zeug, "Baracken – Hütten genug für deinen Bedarf! Gehören niemand – dem deutschen Reich, das existiert nicht mehr, das sind jetzt wir – das Zeug wird ja doch alles verschleppt und verschoben!"
"Meinst du – man kann sich was davon nehmen?"
"Sicher, aber dann rat ich: sofort zugreifen! Lieber heut als morgen! Hast du die Kiesgrube gesehen, wo die Flak gestanden ist? Zwanzig Baracken waren im April noch dort gestanden, heute siehst du ein paar Müllhaufen, sonst nichts! Alles ver-organisiert!"
"Gut, Seppl, packen wirs" entschied Kathy. "Aber wie? Wegtragen?" Sie rüttelte zweifelnd an einer der massiven Brettertafeln. "Wegtragen? Mädchen, du bist gut! Da könntest du schön müde werden, bis du so ein kleines Hüttchen auf dem Platz hast! Da müssen wir uns schon was anderes ausdenken. Weisst, die Eisenbahner da vorn im Bahnhof haben zwei grosse Gepäckkarren; wenn wir sie recht nett bitten, dann werden sie uns einen davon leihen – die Bahn fährt ja sowieso nicht!"
Sie bekamen den Karren und fuhren damit bis in die sinkende Nacht hinein Barackentafeln und anderes Holz hinaus in die dämmrigen Auen. Das kostete allerhand Schweiss auf den weichen Feldwegen, und als das requirierte Gut sorgfältig im Gebüsch neben der Hütte versteckt war, standen schon die Sterne am Himmel, und für die Rückfahrt in die beiderseitigen Bauerndörfer was es zu spät. Ausserdem waren sie beide müde und hungrig – aber Essbares fand sich nichts mehr als vier gekochte Kartoffeln in Seppls Brotbeutel, die waren rasch verzehrt – und danach



konnten die neuen Siedler nichts anderes mehr tun als sich im Bach den Schweiss abwaschen und auf die beiden Strohsäcke in der Hütte hinlegen. Da natürlich keine Decken da waren, legten sie die Strohsäcke und sich selber dicht aneinander, damit es etwas wärmer werden sollte, Seppls alten Militärmantel noch oben darüber. Bald fielen sie in einen bleiernen Schlaf, aber schon vor dem ersten Morgengrauen weckte sie erst die Kälte und gleich darauf das vielstimmige Konzert der Vögel. Schnell waren sie auf den Beinen und radelten nebeneinander nordwärts – Seppl zur Arbeit bei seinem bäuerlichen Vetter, Kathy zu den ländlichen Verwandten, um ihr Hab und Gut dort abzuholen und sich damit in der Hütte häuslich niederzulassen.
Die folgenden Wochen verliefen für Kathy nicht sehr ermutigend; Seppl behielt recht, kein einziger Bauer zeigte Lust, auch nur einen Quadratmeter zu verkaufen. Gute Ratschläge gab es genug. Aber in Wirklichkeit war eben schon alles so überlaufen von Hilfsbedürftigen, von Evakuierten, die zäh in den Dörfern festsassen, von Soldaten, die an der grossen Landstrasse entlang mühsam der Heimat zustrebten, kurzum von solchen Mengen wurzel- und bodenloser Menschen, dass niemand sich gross um das Schicksal solch eines einzelnen Mädchens kümmern konnte. Hunger brauchte Kathy zwar nicht zu leiden, eine ausgebildete Krankenschwester konnte man da und dort gut brauchen und für jemand, den man gut brauchen konnte, hatten die Bauern auch gut zu Essen. Nur, Land zum Ansiedeln, das hatte niemand abzugeben, auch der Bürgermeister nicht – "höchstens in der Kiesgrube neben der Bahnhofstrasse, da haben schon ein paar Leute angefangen zu bauen" meinte er; aber da dankte Kathy, das war der ödeste Platz in der ganzen Gemeinde, gerade das Gegenteil von dem, was sie sich gewünscht hätte. Sonst aber war der Bürgermeister recht entgegenkommend und genehmigte ihr sogar offiziell den Zuzug in die Gemeinde, nebst dem Wichtigsten in dieser Zeit, den Lebensmittelmarken.
Bei Familie Korn machte sie einmal Besuch und erzählte, dass sie in der kleinen Hütte wohnte; dagegen hatte Karl nichts einzuwenden, ihre Bauabsicht auf seinem Grund dagegen war ihm und erst recht seiner Frau nicht ganz so angenehm. Überhaupt war Karl allem Anschein nach auch sehr von Zukunftssorgen gedrückt und hatte merkwürdigerweise offenbar wenig freie Zeit (obwohl doch das Werk noch gar nicht wieder in Betrieb war), sodass er monatelang fast nie hinaus nach Erling kam.




So fuhr Kathy bald wieder allein zurück und setzte ihre Bemühungen im Dorf noch eine Zeitlang fort. Nachdem aber auch die zweite und die dritte Woche ohne Erfolg verlaufen war, verlor sie die Geduld und fuhr los, den Seppl zu holen. Dessen Bauernvetter liess zwar den kräftigen und billigen Knecht nicht gerne gehen; aber versprochen ist versprochen, sagte sich der Seppl und kam mit Kathy mit.
"Aber zur Ernte, da kommst doch bestimmt wieder!“ rief ihm der Vetter nach.
"Ja, ja, wollen sehen, wie weit wir dann sind!" rief der Seppl zurück.
Der Seppl machte Kathy willig den Handlanger, wusste auch trefflich für die Verpflegung zu sorgen – Fleischesser waren sie ja beide nicht. Dazu waren sie auch meist vom schönsten Wetter begünstigt, und als Karl vier Wochen nach Kathys Besuch wieder einmal mit seiner Familie hinausradelte, da waren sie nicht wenig erstaunt, als sie gleich hinter der Einfahrt eine recht ordentliche Hütte aufgerichtet fanden, bewohnt von zwei dunkelbraun gebrannten Naturmenschen. Besonders bei Kathy fiel es auf, wie sie sich in so kurzer Zeit aus einem blassen, abgearbeiteten und etwas nervösen Mädchen in eine gesunde und lebensfrohe Frau verwandelt hatte. Freilich, die Unruhe in ihren Augen war nicht verschwunden und wie nun Seppl wirklich im Innersten zu seiner Kameradin stand, das war aus seinem undurchdringlichen Gesicht nicht zu lesen.

















dreifels ag