9 - Frühlingsfahrt


Der erste schöne Maisonntag sah die Familie Korn auf dem Weg nach Süden.
Jammervoll wie je die Ruinen und Trümmerberge der Innenstadt – doch selbst hier schuf die Sonne heitere Ornamente, wenn sie durch lange Reihen leergebrannter Fenster groteske Schattenspiele auf die Strassen warf. Die Verkehrsvorschriften waren verdreht: Radfahrer mussten auf dem Bürgersteig fahren, das hätte früher einmal einer sich erlauben sollen! Dazu die Angst: hoffentlich nimmt uns keiner die Räder weg! Dröhnende Lastwagenkolonnen, flinke Jeeps überall; an der grossen Brücke über den Fluss lagen, von den Kriegsmaschinen mit einem Hebeldruck beiseite geworfen, die umgekippten Strassenbahnwagen, mit denen lächerliche Endkämpfer Armeen hatten aufhalten wollen.
Auf der Landstrasse draussen traten die Mädchen kräftig in die Pedale. Wo die zwei Flakbatterien waren, sah man nur noch gesprengte Betonklötze und verstreute Fetzen von Brettern und Dachpappe.
"Oh, wir kommen zu spät“ stellte Karl betrübt fest, "alle Baracken und Hütten sind schon verschwunden, und ich hatte mirs doch so schön vorgestellt, wie man ein paar davon nach dem Krieg billig kaufen und aufs Gelände stellen könnte – aber da sind andere Leute schneller da gewesen als wir!"
Sonntägliche Stille herrschte in den Häusern und Fabriken um den kleinen Bahnhof, irgendwo roch es brandig, da war am letzten Kriegstag noch ein Dachstuhl abgebrannt. Auch auf unserm Gelände waren letzte Kriegseinwirkungen festzustellen: die Hütte und die Werkzeugkiste trotz des Riesenschlosses aufgebrochen, Werkzeuge, Wasserpumpe und der schöne Medizinball verschwunden. Dafür lagen Stahlhelme, Handgranaten und Gasmasken herum und am untersten Ast einer Fichte hing einsam ein Gewehr 98.



Kriegssouvenir


Nachbar Lechners Hütte war auch aufgebrochen und seine dort verwahrten Möbel waren verschleppt. Sei es denn – das Fehlende als Kriegsverlust abgeschrieben – die unerwünschten Relikte für einen etwaigen Altmaterialsammler hinter einem Busch aufgestapelt, und das Auenland war wieder, was es immer gewesen war.
Auch heute wieder war der Himmel föhnig, aber es war einer von diesen überwarmen Tagen, an denen der Dunst von den Feldern aufsteigt. Die Wolken werden, weiss und grau, federgleich oder auch als nasse Regensäcke da und dort umhergetrieben und der warme Wind reisst stürmisch an den Bäumen. Die Büsche trugen reichlich Kätzchen, der Rasen war schon grün, und unter der einzelnen Kiefer vor dem Tor blühten zwischen Büschen der Schneeheide ein paar dunkelblaue Enziane und die seidige Glocke einer Küchenschelle. Karl hatte, der windigen Wetterlage entsprechend, den Ruheplatz in dem trockenen Graben gewählt, die Kleider waren schnell gefallen, und alle vier genossen zunächst einmal die himmlische Ruhe – nur Wind und Wasser und Vogelstimmen hatten heute das Wort.
Kuckuck, Kuckuck, erklang es nah und fern – Ilse lachte, nun wieder richtig froh: "Solch einen Kuckuck lass ich mir gern gefallen, der ist mir schon lieber als der im Radio!" Moni fing mit heller Stimme an zu singen "Wann der Kuckuck schreit, ists die schönste Zeit, holleria hoo...", Mutter und Schwester stimmten in das lustige Jodelliedchen ein und der Vater, bei dem Singen die schwache Seite war, brummte mit glänzenden Augen ein bisschen mit.




Karl, Moni, Ilse und Hedwig


"So schön hab ichs schon lang nicht mehr gehabt" plauderte Moni. "Dass wir wirklich wieder alle vier hier draussen beisammen sind! Im Gebirge wars ja auch schön, aber zum Schwimmen haben wir nur ganz selten einmal gehen dürfen, die Lehrerinnen haben ja so viel Angst gehabt, es könnt mal eine von uns ertrinken oder wir könnten uns die Augen verbrennen – da ist einmal ein Schreiben gekommen, vom Schulamt, die Schülerinnen dürfen nur mit Kopftuch und Sonnenbrille spazieren gehen."
"Na, habt ihr denn alle das getan?"
"Nein, da war ja bei uns so viel dunkler Wald, Ski gelaufen sind wir nur zweimal im ganzen Winter, einmal waren ein paar Ski oder die Skistiefel kaputt oder der Schuster hat kein Leder gehabt zum Flicken, oder keine Zeit."
"Na ja" warf Hedwig ein, " beim Arbeitsdienst wars ja auch ähnlich, im Bayrischen Wald, da haben wir auch so viel Schnee gehabt und keine Ski!"
"Aber daheim ists doch am Schönsten – und wenn sie uns aus dem Gaswerk hinauswerfen, dann bauen wir uns einfach hier draussen ein kleines Häusel, nicht, Vater?"




"Ja, das wäre schön! Aber aus was denn? Aus deinem Baukasten?"
"Ich geb mein Sparkassenbuch dazu, und ihr habt doch auch alle noch Sparbücher!"
"So, meinst, das reicht für ein nettes kleines Häusel? Aber ich seh da ein bisschen schwarz, bis jetzt gibt’s nämlich noch die sogenannte Baustoff-Bewirtschaftung."
"Und ausserdem, von was leben wir dann?" fragte die skeptische Hedwig.
"Da kaufen wir uns noch ein Stück Acker und bauen Kartoffeln und Gemüse an, und der Vater kriegt schon wieder eine Arbeit irgendwo, und die Hedwig, die kann stricken und Fleckerlteppiche weben, da verdient sie auch was und ich komme auch bald aus der Schule und kann dann Gärtnerin lernen."
"Komm, jetzt spielen wir aber endlich mal wieder Faustball." Es entwickelte sich ein fröhliches Familien-Faustballspiel, mit anschliessendem Geplätscher im Bach. Danach machten alle noch einen kleinen Spaziergang an den nahen Fluss, aber der lud durchaus nicht zum Bade, vielmehr tobte er gelbbraun und schäumend zwischen seinen Steindämmen daher, fast bis zum Rande vom Schmelzwasser der Berge gefüllt.
    





Lange vor Sonnenuntergang hiess es dann, sich auf den Heimweg machen, denn um sieben Uhr abends war Sperrstunde, und die MPs verstanden keinen Spass.

Natürlich folgten noch öfters solche Fahrten in die Erlinger Au, und ganz allmählich fanden sich noch mehr Freunde aus dem alten Kreis wieder ein, zum Beispiel die stramme schwarzhaarige Lotte aus Berlin mit ihren zwei kleinen Mädchen, die schon seit zwei Jahren als "Evakuierte" auf einem Dorf lebten, leider gerade entgegengesetzt hinter der Stadt, sodass sie nur selten den weiten Weg machen konnten. Auch wurde eines Tages eine Schulkameradin von Monika, für die vorübergehend daheim gar kein Platz war, von ihrer Mutter zu Korns gebracht. Sie war zwei Monate Gast bei Korns und fuhr gerne mit den Mädchen hinaus zum spielen und schwimmen.

Die meisten von den alten Freunden aber lebten als Ausgebombte noch auf dem Lande oder sie weilten zwar schon wieder in der Stadt, hatten es aber dort nicht leicht; sie mussten ihre zerbombten Wohnungen richten und in erster Linie daran denken, wie sie sich und ihre Familie satt kriegten, da gingen Zweckfahrten vor Vergnügungsfahrten!

Anderseits wurde auch manchmal der eine oder andere aus der Gilde der Naturmenschen von jener unruhigen Zeit mit ihren unfreiwilligen Wanderungen für ein paar Wochen oder Monate in die Stadt verschlagen und freute sich dankbar an Karls Oase in der Wildnis.











dreifels ag