8 - Ohne, Ohne, Ohne


Ohne was man damals auskommen musste und auch konnte!
Ohne Wasser – das wäre ja wohl nicht lange gut gegangen, doch in unserer Stadt waren die Leitungen bald wieder notdürftig geflickt; ohne Strom – das ging eine ganze Zeit lang, die Tage wurden länger, man ging mit den letzten Kerzen früh zu Bett, und eines Tages brannten doch die Lampen stunden – und bezirksweise wieder; ohne Gas – da waren die Besatzer resolut und drehten den Hahn zu; unsere Gaswerksleute hatten für ihren Privatgebrauch noch etliche tausend Kubikmeter in ihren riesigen Behältern und Karl rechnete sich aus, dass es für die Werkswohnungen gut ein halbes Jahr reichen würde.
Ohne Zeitung ein halbes Jahr lang – wer hätte sich das früher vorstellen können? Wer Strom im Haus hatte, der konnte Nachrichten im Radio hören, kunterbunt und seltsam purzelten sie zeitweise aus den Lautsprechern, amerikanisch gesteuert.
Ohne Post, mindestens ein Vierteljahr lang – private Mitteilungen wurden, wohl versteckt (da die Besatzungsmacht auch diese Art der Nachrichtenbeförderung verboten hatte) von Boten überbracht, von entlassenen Soldaten, die auf dem Heimweg waren, und von sonstigen Leuten, die auf abenteuerlichen Wegen wieder mit ihren Angehörigen zusammenzukommen strebten.
Ohne Eisenbahn – lange Wochen rosteten die Schienen und die übriggebliebenen Lokomotiven, waren die Bahnhöfe von zerschossenen und verbrannten Wagen versperrt. Als endlich wieder die Schienenwege halbwegs in Ordnung waren, da gab es zunächst nur Güterzüge, und wer eine Reise wagen wollte, der brauchte dazu viel Unternehmungsgeist, dazu List und Schläue und Protektion, und es war auch gut, wenn man etwas Seife mithatte, denn man musste sich mit offenen Kohlenwagen begnügen – später, wenn es gut ging, mit fensterlosen, dafür aber bis auf Trittbretter,




Puffer und Dächer vollbesetzten Bummelzügen.
Ohne Strassenbahn – das wollte ja nicht viel besagen.
Ohne Schule – die Kinder hielten das gerne eine halbes Jahr oder mehr aus, die Lehrer zur Not auch.
Ohne Polizei – das war für den deutschen Bürger ein ganz sonderbarer Zustand, wo er doch in seiner ganzen neueren Geschichte stets gewohnt gewesen war, von der Wiege bis zur Bahre durch die väterliche Autorität des Staates gegängelt zu werden, und wo er sich in den letzten zwölf Jahren kaum zu schnaufen getraut hatte ohne polizeiliche und parteiamtliche Genehmigung!
Es muss allerdings zugegeben werden, dass die Besatzungsmacht sehr bemüht war, in diesem Punkte auf die Mentalität der Besiegten Rücksicht zu nehmen, indem sie diese einer gut funktionierenden Militärpolizei unterstellte. Wenn auch die langen MP-Leute aus Texas oder Arkansas meist kein Wort deutsch verstanden und die Deutschen ihrerseits nur selten wissen konnten, welche Gesetze zur Zeit für sie massgebend waren, so sprachen doch die Gummiknüppel eine deutliche Sprache – und wenn zwei solche Boys mit rauer Herzlichkeit auf der Strasse oder später in der Strassenbahn Aktentaschen und Rucksäcke nach Camel-Zigaretten oder sonstiger Schwarzmarktware durchsuchten, so hatten die Deutschen nach guter alter Sitte wieder mal was über die Obrigkeit zu schimpfen.
Und ohne was sonst ging das Leben der Deutschen weiter?
Ohne Kohlen – aber es war ja Sommer, und Brennholz aus Ruinen gab es noch genug.
Ohne Butter – darum gabs auch nicht so viele Herzinfarkte wie zehn Jahre später.
Ohne Starkbier – Kummer der Urbayern - aber sonst nicht wichtig.
Ohne Autos – zu Fuss gehen ist ja viel gesünder als fahren (besonders bei ausreichender Marschverpflegung, die ja leider meist fehlte); nur alte Veteranen von Lastwagen wagten sich allmählich wieder auf die Strassen, in steter Gefahr, von den pausenlos rollenden Kolonnen Amerikas überrollt oder in den Graben gedrückt zu werden.
Wer Glück hatte, konnte von einem solchen braven Lastwagen sogar einmal über Land mitgenommen werden. Korns Monika zum Beispiel glückte das mit ihren




9 Klassenkameradinnen. Eines nachmittags im Mai standen sie mit ihren Köfferchen, Rucksäckchen und Schulmappen am Brunnen vor ihrem altehrwürdigen Schulgebäude in der Heimatstadt, glücklich aus dem Gebirge zurück. Aber sie konnten nicht hinein ins Schulhaus, denn es war von vielen Ausländern belegt, und Fräulein Schiller hatte eine letzte Aufgabe, nämlich die Eltern zusammenzutrommeln und ihnen ihre Mädchen unbeschädigt zurückzugeben.
Ohne Männer und Väter – noch auf lange Zeit oft, auf immer bei vielen, das war bitter!
Ohne Frauen und Mütter – auch dieses Schicksal mussten allzu viele auf sich nehmen.
Ohne – ohne – ohne – es gab auch positive Ohnes, recht gewichtige sogar:
Ohne Bomben, ohne Alarme, ohne Zwangsarbeit, ohne Gewissenszwang.



So federleicht waren da die Menschen geworden – sie schwammen und schwebten im Schicksalsstrom und lachten, wenn ihnen dabei die Sonne schien, sie suchten nach Nahrung und Behausung, sie schnappten nach Futter und sie wühlten im Dreck,




und jeder war sich selbst der Allernächste – aber wer Familie und Freunde hatte, bei dem wuchs der Kreis der Nächsten, und so baute sich allmählich die Gesellschaft neu von unten wieder auf.

Die Leute im Gaswerk hatten, das war nicht zu leugnen, gewisse Vorteile in der Hand gegenüber Millionen anderen, und so war es nicht zu verwundern, dass die wieder vereinten Familien sich des Lebens freuten und nach der bösen Vergangenheit erst einmal das Leben aufatmend genossen.
Arbeit im Werk gabs nicht viel, man sass seine Bürostunden ab und lernte englisch, um bei den kleinen Besatzungsepisoden mitreden zu können, man fabrizierte aus Rohgummi und Benzol Gummilösung, um die Fahrräder für die allmählich einsetzenden Hamsterfahrten betriebsfähig zu erhalten, man überholte Maschinen und flickte Dächer und man baute die Gärten an – sonst war nicht viel zu machen.




















dreifels ag