"Wie viele Männer?" war Korns besorgte Gegenfrage.
"Neunzig"
Oh weh, jetzt müssen wir raus, dachte Karl, wies aber zunächst einmal auf das Bürogebäude hin und auf den Schlafraum der Luftschutzwache.
Aber, o Wunder, der Hauptmann wollte gar nichts davon wissen, noch weniger von den Wohnhäusern – "wir haben selbst unsere Betten" – und begnügte sich mit den leeren Dachböden über der Kantine und über dem Labor: liess sich ein Stück Kreide geben und schrieb auf alle Türen der Betriebsräume "off limits", denn Karl hatte ihn auf das Rauchverbot und die Explosionsgefahr aufmerksam gemacht; dann erklärte er mit Nachdruck, während der Dunkelheit habe kein Zivilist etwas draussen oder in den Gebäuden zu suchen.
"Sollten wir nicht einen Maschinisten über Nacht dalassen, damit sie nachts Licht haben? Die öffentliche Stromversorgung ist ausgefallen und wir haben mit viel Mühe unsere Notstromanlage in Betrieb gesetzt."
"No, wir haben selbst unser Licht! Noch etwas? Okay, good night!"
Damit war Karl entlassen und sah danach mit einigem Erstaunen, dass auch die Amis, die gewöhnlich so schlaksig mit den Händen in den Hosentaschen untereinander verkehrten, wenns sein musste zackige Kommissformen anwenden konnten.
Der Hauptmann liess seine Männer stramm in Linie antreten, der Feldwebel machte Meldung, die Hände an der Hosennaht und der Captain hielt eine lange Ansprache. Karl verstand leider kaum ein Wort davon, denn das Amerikanische unterschied sich offenbar doch stark vom Oxford – Englisch, aber es machte ihm den Eindruck, als sei diese ganze Truppe neu an die Front gekommen und der Hauptmann lege es ihnen sehr ans Herz, "ihrer Uniform Ehre zu machen."
Das taten sie denn auch in den drei Tagen, bis sie weiterzogen – sie reparierten Autos und Panzer, machten keinen Schritt in die verbotenen Häuser. Auch ihre Raupenfahrzeuge blieben schön auf den gepflasterten Höfen und kamen nicht in die Gärten, in denen sich nur die Offiziere um ihren rassigen Mercedes tummelten, den sie sicher irgend einem deutschen General abgenommen hatten.
So konnte man von dieser Seite fürs nächste unbesorgt sein, es hatten ja inzwischen auch alle Eingänge zum Werk und zu den Wohnhäusern die rettende Aufschrift "off limits" erhalten.
Schlimmer stand es draussen, wo die Zehntausenden von Fremdarbeitern: Franzosen, Holländer, Belgier, Ukrainer, Polen und was es sonst noch alles gab, aus Arbeitssklaven, die man wie wilde Tiere hinter Stacheldraht gehalten hatte, zu freien Menschen geworden waren, die meist keinen sehnlicheren Wunsch hatten, als in ihre Heimat zu kommen – wenns nicht anders ging, auf einem Fahrrad, das man einem Deutschen abnahm.
(Siehe Flugblatt im Anhang)
Das war eine von den ersten Warnungen, die unter den Gasleuten umgingen, die sich allmählich wieder beim Pförtner einfanden:
"Achtung auf die Fahrräder, die nehmen einem die Ausländer weg – und auch die Neger-Soldaten, und erst recht sind die auf Uhren scharf! Und überhaupt, geplündert wird überall, ganze Fabriken werden ausgeräumt!"
"Ja wollt ihr mal probieren?" sagte Czibulka, der verschmitzte alte Oberschlesier, der früher mal Zirkusclown gewesen war und den man bei der letzten Durchkämmung der Karteien im Arbeitsamt entdeckt und als Hilfspförtner ins Gaswerk gesteckt hatte. Er schleppte zwei Blechkannen an und die kleinen Äuglein in seinem runden geröteten Gesicht glänzten:
"Der beste Schnaps, den ich je getrunken habe, komm ich gerade von Bonbon-Fabrike, hat man sich ausgeräumt, hättet ihr sollen sehen die Russkis und Polskis, wie sie haben gesoffen! Nu ja, kann ich ja auch genug polnisches Sprach, tu ich halt, als ob ich auch bin Fremdarbeiter – vierundzwanzig Sorten Schnaps waren da, hab ich probiert alle, hab ich genommen dann zwei Kanne mit allerbeste – garantiere ich, habt ihr noch nicht solche getrunken!"
"Gib mir einen Schluck, so was kann man brauchen auf den Schreck – so eine gottverdammte Bande!" schimpfte der sonst so ruhige und bedächtige Vorarbeiter Lampe, der eben aus der Arbeiterkolonie gekommen war.
"Kommt doch so ein Halunke zu mir in die Wohnung, rote Armbinde hat er gehabt, sagt zu meiner Frau "du Anzug mir geben von deine Mann", ich komm zur rechten Zeit noch dazu und sag "du bist ja gut, ich brauche meine Anzüge selber, schau dass du rauskommst." Da grinst er und zieht eine Pistole aus der Tasche, eine Militärpistole Walter 07 wars, und hält sie mir vor die Nase – was willst da machen, ich muss zuschauen, wie der den ganzen Kleiderkasten durchwühlt, der Schlawiner, der dreckige, und meine zwei besten Anzüge mitnimmt, und meine letzten guten Schuhe auch noch, und dann hat er noch recht höflich gesagt "danke serr, du gute Mann, aber Pistol auch gutt!" und fort war er – da könntest gerade heulen vor Wut, mein bester Sonntagsanzug – kruzifix sackerment sackerment!"
"Ja vielleicht ist das meine Pistole gewesen? So ist der Welt Lauf," sinnierte der Nachtwächter Eusebius Müller.
"Das kann leicht sein – aber da muss doch was geschehen - aber was denn, was kann man da machen – zusammenschlagen müsst mans, die ganze Bande – da muss doch Polizei her – dass ich nöt lach, der Polizei habens doch auch die Waffen abgenommen –"
so schwätzten alle durcheinander, nebenbei mit Eifer Czibulkas zwei Auslese-Schnäpse probierend.
"Herr Baurat, wollens nicht auch probieren? Ist sich ganz was Extrafeines!"
lud Czibulka seinen Chef ein, der eben hereinkam, um zu schauen, ob und wie die Belegschaft allmählich wieder zusammenkäme.
"Danke, damit kann man mich nicht locken" lehnte Karl ab.
"Dös weisst doch, der Herr Baurat trinkt bloss an Apfelsaft!" fügte ein anderer hinzu.
Danach ging man zu der ernsthaften Frage über, wie die Wohnungskolonie des Werkes vor Plünderern zu schützen wäre. Als einzige Lösung ergab es sich, dass man die ganze Siedlung nach aussen streng abschliessen müsste.
Und dass alle Bewohner den Weg durch das Werk nehmen müssten, was einen ziemlichen Umweg für sie bedeuten würde, wenn sie aus der Stadt kamen – was aber auf jeden Fall Fremden das Eindringen sehr erschweren würde. Holz für einen Zaun gab es glücklicherweise noch genug im Werk, zu tun dagegen sonst nicht viel, denn die Gaserzeugung war auf Weisung der Militärregierung alsbald eingestellt worden; die Werksleitung hatte auch nichts gegen den Zaunbau und so wurde in durchaus demokratischer und freiwilliger Zusammenarbeit in der Rekordzeit von drei Stunden ein solider hoher Zaun erstellt und sämtliche Nebenausgänge wurden gründlich verrammelt. Etliche fixe Leute – alle konnten ja sowieso nicht auf einmal an dem Zaun arbeiten – fanden nebenbei noch Zeit, sich in der Nachbarschaft umzusehen.
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