7- Seltsame Ereignisse


Der nächste Tag zeigte schon, wie ungleich die Lose des Schicksals auch fernerhin fallen würden: während die meisten sich der neugewonnenen Ruhe freuten, mussten andere mit Bündeln und Koffern durch die Strassen irren und nach einer Unterkunft suchen, weil sie von den Befreiern von einer Stunde zur anderen aus ihren Häusern vertrieben worden waren.
Bei den Amerikanern herrschte der strenge Befehl der "no – fraternisation" den Deutschen gegenüber, sie durften nicht mit ihnen reden und noch weniger mit ihnen unter einem Dach wohnen – das war eine Überraschung für die Deutschen, denen von alters her der Begriff der Einquartierung der Soldaten bei den Zivilisten selbstverständlich war. Für die, welche nicht gerade aus ihren Wohnungen hinausgeworfen wurden – das waren aber meist die Leute mit netten Einfamilienhäusern – war diese Ordnung ja ganz angenehm, sie hatten wenig mit den Soldaten zu tun.
Die Gasleute hatten zuerst ein wenig Angst, wie es ihnen mit ihren schönen Dienstwohnungen ergehen würde. Karl, der Einzige im Werk, der mit den Amerikanern verhandeln konnte, stand gerade im Nachthemd im Badezimmer und rasierte sich, da wurde er wieder ans Tor gerufen, wo ein Soldat ohne alle Abzeichen, der sich später auf Karls bescheidene Frage als Captain vorstellte, durchs Werk geführt zu werden begehrte. Der Captain rannte wie ein Wiesel durch alle Höfe und Hallen, wollte wissen, ob Gas in den Behältern sei, dann wo er seine Fahrzeuge – mächtige Raupen-Ungeheuer, stellte sich nachher heraus – gegen Fliegersicht gedeckt abstellen könne (Karl stellte sich entsetzt vor, wie die schönen Gartenanlagen wohl danach aussehen würden) und stellte schliesslich, mimisch unterstützt durch viele Gebärden, die Frage, wo er mit seinen Leuten schlafen könne.




Gaswerk Postkarte 1920



"Wie viele Männer?" war Korns besorgte Gegenfrage.
"Neunzig"
Oh weh, jetzt müssen wir raus, dachte Karl, wies aber zunächst einmal auf das Bürogebäude hin und auf den Schlafraum der Luftschutzwache.
Aber, o Wunder, der Hauptmann wollte gar nichts davon wissen, noch weniger von den Wohnhäusern – "wir haben selbst unsere Betten" – und begnügte sich mit den leeren Dachböden über der Kantine und über dem Labor: liess sich ein Stück Kreide geben und schrieb auf alle Türen der Betriebsräume "off limits", denn Karl hatte ihn auf das Rauchverbot und die Explosionsgefahr aufmerksam gemacht; dann erklärte er mit Nachdruck, während der Dunkelheit habe kein Zivilist etwas draussen oder in den Gebäuden zu suchen.
"Sollten wir nicht einen Maschinisten über Nacht dalassen, damit sie nachts Licht haben? Die öffentliche Stromversorgung ist ausgefallen und wir haben mit viel Mühe unsere Notstromanlage in Betrieb gesetzt."
"No, wir haben selbst unser Licht! Noch etwas? Okay, good night!"




Damit war Karl entlassen und sah danach mit einigem Erstaunen, dass auch die Amis, die gewöhnlich so schlaksig mit den Händen in den Hosentaschen untereinander verkehrten, wenns sein musste zackige Kommissformen anwenden konnten.
Der Hauptmann liess seine Männer stramm in Linie antreten, der Feldwebel machte Meldung, die Hände an der Hosennaht und der Captain hielt eine lange Ansprache.
Karl verstand leider kaum ein Wort davon, denn das Amerikanische unterschied sich offenbar doch stark vom Oxford – Englisch, aber es machte ihm den Eindruck, als sei diese ganze Truppe neu an die Front gekommen und der Hauptmann lege es ihnen sehr ans Herz, "ihrer Uniform Ehre zu machen."
Das taten sie denn auch in den drei Tagen, bis sie weiterzogen – sie reparierten Autos und Panzer, machten keinen Schritt in die verbotenen Häuser.
Auch ihre Raupenfahrzeuge blieben schön auf den gepflasterten Höfen und kamen nicht in die Gärten, in denen sich nur die Offiziere um ihren rassigen Mercedes tummelten, den sie sicher irgend einem deutschen General abgenommen hatten.
So konnte man von dieser Seite fürs nächste unbesorgt sein, es hatten ja inzwischen auch alle Eingänge zum Werk und zu den Wohnhäusern die rettende Aufschrift "off limits" erhalten.
Schlimmer stand es draussen, wo die Zehntausenden von Fremdarbeitern: Franzosen, Holländer, Belgier, Ukrainer, Polen und was es sonst noch alles gab, aus Arbeitssklaven, die man wie wilde Tiere hinter Stacheldraht gehalten hatte, zu freien Menschen geworden waren, die meist keinen sehnlicheren Wunsch hatten, als in ihre Heimat zu kommen – wenns nicht anders ging, auf einem Fahrrad, das man einem Deutschen abnahm. (Siehe Flugblatt im Anhang)
Das war eine von den ersten Warnungen, die unter den Gasleuten umgingen, die sich allmählich wieder beim Pförtner einfanden:
"Achtung auf die Fahrräder, die nehmen einem die Ausländer weg – und auch die Neger-Soldaten, und erst recht sind die auf Uhren scharf! Und überhaupt, geplündert wird überall, ganze Fabriken werden ausgeräumt!"




"Ja wollt ihr mal probieren?" sagte Czibulka, der verschmitzte alte Oberschlesier, der früher mal Zirkusclown gewesen war und den man bei der letzten Durchkämmung der Karteien im Arbeitsamt entdeckt und als Hilfspförtner ins Gaswerk gesteckt hatte. Er schleppte zwei Blechkannen an und die kleinen Äuglein in seinem runden geröteten Gesicht glänzten:
"Der beste Schnaps, den ich je getrunken habe, komm ich gerade von Bonbon-Fabrike, hat man sich ausgeräumt, hättet ihr sollen sehen die Russkis und Polskis, wie sie haben gesoffen! Nu ja, kann ich ja auch genug polnisches Sprach, tu ich halt, als ob ich auch bin Fremdarbeiter – vierundzwanzig Sorten Schnaps waren da, hab ich probiert alle, hab ich genommen dann zwei Kanne mit allerbeste – garantiere ich, habt ihr noch nicht solche getrunken!" "Gib mir einen Schluck, so was kann man brauchen auf den Schreck – so eine gottverdammte Bande!" schimpfte der sonst so ruhige und bedächtige Vorarbeiter Lampe, der eben aus der Arbeiterkolonie gekommen war.
"Kommt doch so ein Halunke zu mir in die Wohnung, rote Armbinde hat er gehabt, sagt zu meiner Frau "du Anzug mir geben von deine Mann", ich komm zur rechten Zeit noch dazu und sag "du bist ja gut, ich brauche meine Anzüge selber, schau dass du rauskommst." Da grinst er und zieht eine Pistole aus der Tasche, eine Militärpistole Walter 07 wars, und hält sie mir vor die Nase – was willst da machen, ich muss zuschauen, wie der den ganzen Kleiderkasten durchwühlt, der Schlawiner, der dreckige, und meine zwei besten Anzüge mitnimmt, und meine letzten guten Schuhe auch noch, und dann hat er noch recht höflich gesagt "danke serr, du gute Mann, aber Pistol auch gutt!" und fort war er – da könntest gerade heulen vor Wut, mein bester Sonntagsanzug – kruzifix sackerment sackerment!" "Ja vielleicht ist das meine Pistole gewesen? So ist der Welt Lauf," sinnierte der Nachtwächter Eusebius Müller. "Das kann leicht sein – aber da muss doch was geschehen - aber was denn, was kann man da machen – zusammenschlagen müsst mans, die ganze Bande – da muss doch Polizei her – dass ich nöt lach, der Polizei habens doch auch die Waffen abgenommen –" so schwätzten alle durcheinander, nebenbei mit Eifer Czibulkas zwei Auslese-Schnäpse probierend.
"Herr Baurat, wollens nicht auch probieren? Ist sich ganz was Extrafeines!"




lud Czibulka seinen Chef ein, der eben hereinkam, um zu schauen, ob und wie die Belegschaft allmählich wieder zusammenkäme.
"Danke, damit kann man mich nicht locken" lehnte Karl ab.
"Dös weisst doch, der Herr Baurat trinkt bloss an Apfelsaft!" fügte ein anderer hinzu.
Danach ging man zu der ernsthaften Frage über, wie die Wohnungskolonie des Werkes vor Plünderern zu schützen wäre. Als einzige Lösung ergab es sich, dass man die ganze Siedlung nach aussen streng abschliessen müsste. Und dass alle Bewohner den Weg durch das Werk nehmen müssten, was einen ziemlichen Umweg für sie bedeuten würde, wenn sie aus der Stadt kamen – was aber auf jeden Fall Fremden das Eindringen sehr erschweren würde.
Holz für einen Zaun gab es glücklicherweise noch genug im Werk, zu tun dagegen sonst nicht viel, denn die Gaserzeugung war auf Weisung der Militärregierung alsbald eingestellt worden; die Werksleitung hatte auch nichts gegen den Zaunbau und so wurde in durchaus demokratischer und freiwilliger Zusammenarbeit in der Rekordzeit von drei Stunden ein solider hoher Zaun erstellt und sämtliche Nebenausgänge wurden gründlich verrammelt.
Etliche fixe Leute – alle konnten ja sowieso nicht auf einmal an dem Zaun arbeiten – fanden nebenbei noch Zeit, sich in der Nachbarschaft umzusehen.

Ausstellungszelt der Zeltfirma gegenüber dem Gaswerk als Spielburg







Die Räume der Zeltfabrik, so hörte man, wurden für ein amerikanisches Nachschub-Lager gebraucht – aber sie waren vollgestopft mit Waren. Sie frei zu machen fand man einen einfachen Weg: man sagte allen den Fremdarbeitern, die dort und in der Nähe geschafft hatten, sie sollten sich an den Waren für die Zwangsarbeit schadlos halten. So zogen denn drei Tage lang von früh bis spät seltsame Gestalten durch die Tore, schwer bepackt mit allem, was dort zu holen war: Lederballen, Rucksäcke, Riemenzeug, Segeltuch und ganze Zelte, aber auch Werkzeug und Eisenwaren, Elektromotoren und Kugellager, Stühle und Betten und was einer sonst noch etwa als irgendwie verwendbar betrachtete.
Unter die privilegierten Ausländer mischten sich allmählich immer mehr Deutsche und die Plünderungswelle – oder das "Organisieren", wie der zeitgemässe Fachausdruck lautete - breitete sich immer weiter aus. So manches später gutgehende Schwarzhandels- Unternehmen schuf sich in diesen ersten Wochen hier seine solide Sachwert-Unterlage. Jeder Betrieb, den niemand bewachte, wurde gründlich leer gemacht, jedes herrenlose Fahrzeug - es gab deren ziemlich viele – wurde in seine Bestandteile zerlegt. Halbwüchsige Buben brachten Lichtmaschinen und Autobatterien nach Hause, mit denen sie nicht das Mindeste anfangen konnten, Staabs Fritz rollte sogar einen kompletten Elektrokarren heim; der Kraftfahrer Muckelbauer spendete dem Werk zehn Säcke Gips und einen Ballon Schwefelsäure. Das hatte er in einem kleinen Betrieb gefunden, der seit einiger Zeit in einer Hütte auf dem benachbarten Sportplatz bestand.
Ein paar Gefässe aus Gips brachte er auch mit, die dort offenbar hergestellt worden waren – man rätselte daran herum, wofür diese schlanken Vasen wohl gebraucht worden waren? Sprengstoffeinsätze für Bomben? Lebensmittelbehälter? Oder wofür sonst? Des Rätsels Lösung brachten einige Rechnungsformulare, die Karl zwischen anderen Papierfetzen vom Boden auflas:
"10 000 Aschenurnen für Lager Buchenwald" hiess es da!
Karl schauderte es; aus diesem nüchternen Geschäftspapier grinste ihn unversehens der unvorstellbare Umfang des Verbrechens an, das in diesen Lagern verübt worden war.




Wie wenig eigentlich war bis dahin an die Öffentlichkeit gedrungen.
So wenig, dass ein braver Parteigenosse wie der gewesene Volkssturm-Kompanieführer Wagner noch Wochen, nachdem die Konzentrationslager von den Alliierten geöffnet und der Welt gezeigt worden waren, ganz unwissend fragen konnte: "Was ist denn das eigentlich, ein Kazetler (A.R.:= Konzentrationslager-Insasse)?"
So weit waren also schon damals manche Leute dressiert und mit jener seelischen Eigenschaft imprägniert worden, die Orwell etliche Jahre später in seiner schauerlichen Vision "1984" mit dem neuen Wort "Gutdenk" bezeichnet hat: was der Führer tut, ist gut, und was er nicht wissen darf, das darf ich auch nicht wissen – es existiert einfach nicht!
Aber, "Kazetler", echte und falsche, kennen zu lernen, gab es jetzt Gelegenheit genug; echte zwar nicht allzu viele, denn die meisten davon waren ja vergast oder im Massengrab verscharrt, aber die falschen und die halbechten machten um so mehr von sich reden, vor allem die "Kriminellen", die in den Lagern den "Politischen" gegenüber die Rolle der besseren Leute gespielt hatten und infolgedessen noch etwas mehr bei Kräften geblieben waren. Auch sie trugen in den ersten Monaten ihr Teil dazu bei, dass die braven Bürger immer etwas in Angst gehalten wurden, hauptsächlich aber sorgten dafür Fremdarbeiter, Militärpolizei und schiesswütige Wachposten. Vierzehn Tage lang knallten sie in den Nächten an allen Ecken und Enden, glücklicherweise fast immer in die Luft; manchmal ging es aber auch böse aus.
An einem ganz gewöhnlichen Vormittag zum Beispiel lag plötzlich eine alte Frau auf der Strasse vor dem Gaswerk. Schuss durch den Rücken, mausetot. Eine MP-Streife brauste heran; ein kleiner dunkelhaariger Militärarzt kam in seinem Jeep, drehte die Leiche von der Brust auf den Rücken, murmelte ein paar Worte zu den Polizisten und verschwand wieder, ohne die bestürzt herumstehenden Deutschen eines Blickes zu würdigen. Die Polizisten, offensichtlich unangenehm berührt, redeten und gestikulierten unverständlich – herbeigeeilte Nachbarn deuteten auf die Fenster der ausgeräumten Fabrik, in der inzwischen polnische Arbeiter einquartiert worden waren und sich reichlich mit Waffen versehen hatten.




Die MP's ihrerseits machten grimmige Gesichter und wiesen auf das Gaswerksgelände hin, wo nach ihrer Meinung der Schuss hergekommen sein konnte. Korn, der gerade in diesem Stadium der Untersuchung hinzukam, brachte sein bisschen Englisch an den Mann: "we have not arms in our work!" Das war aber auch alles, was die Polizei aus dem zusammengelaufenen kleinen Publikum an Mitteilungen herausbekam. Wenig genug, sagte sich der Sergeant; er ging mit seinen zwei Kameraden noch dreimal um die Leiche herum, sagte "okay", stieg auf den Jeep und fuhr ab.

"Auflösung aller gesetzlichen Ordnung wird hier demonstriert" stellte Karl Korn fest. "Wollen mal sehen, ob wenigstens der städtische Bestattungsdienst noch funktioniert."
Und richtig, da - merkwürdig genug! – das städtische Fernsprechnetz noch arbeitete, kamen schon eine Stunde später zwei Arbeiter mit einem Lastwagen, packten die verlassene, auf dem Bürgersteig liegende leichte Leiche in eine schwarze Kiste und luden sie auf den Fünftonner.

Damit war der Fall für die Umgebung abgeschlossen – niemand wusste oder erfuhr weder, wer die Tote war, noch wer sie ermordet hatte – die Namenlosigkeit des Kriegsschicksals schwebte noch über dem Land, ja alles war durch die Besetzungswillkür noch anonymer geworden. Eine Auswirkung dieses Todesfalles allerdings glaubte Karl in den nächsten Tagen feststellen zu können: die nächtliche Knallerei verstummte fast völlig.
Ob es da wohl einen gesalzenen Kommandanturbefehl gegeben hatte? Niemand wusste es und es konnte ebenso gut ein blosser Zufall gewaltet haben.

Eine solche Ungewissheit – auf der einen Seite logische Wahrscheinlichkeit, auf der anderen Seite die Möglichkeit reinen Zufalls – das passte ganz in das unsicher schwimmende und schwebende Dasein der Deutschen in jenen Monaten und Jahren.







dreifels ag