6 - Der Tag Null


Der alte Nachtwächter Müller hatte auch in dieser Nacht getreulich seine Runden gemacht mit umgehängter Pistole, an allen vier Ecken des Werkes seine Kontrolluhr gestochen und scharf nach unbefugten Eindringlingen ausgeschaut.

Apparatehaus bei Nacht


Aber es hatte nichts mehr die Ruhe gestört, bis auf das plötzliche Infanterie-Geschiesse am frühen Morgen. Kurz nach dieser Störung war nun doch noch ein Eindringling festzuhalten: über die rückwärtige Umzäunung war ein barhäuptiger Uniformierter gestiegen und lief eilig mitten durch das Werk.
"Halt, wo wollen sie denn hin" rief Müller.




"Ausrücken vorm Ami, du Schafskopf" antwortete der Uniformierte und blieb schwer atmend stehen. Es war ein Unteroffizier, ohne Waffen, und er zeigte dem Nachtwächter, dem Meister und dem Maschinisten, die auch neugierig herbeigeeilt waren, seine Feldmütze.
"Mitten durch die Mütze haben sie mich jeschossen, die Halunken, drin im Vorort! Konnte jerade noch in Deckung jehn! Na und denn hab ich schleunigst Leine jezogen, werd mich doch nicht totschiessen lassen in den letzten fünf Minuten!"
Er sah sich um, mit dem Blick des Gehetzten.
"Scheint, dass sie meine Spur verloren haben – aber jetzt nur nicht ins Gefangenenlager! Was ich jetzt brauchte, währ halt ein Zivilanzug – brauchte nicht die neueste Mode sein, nur dass er noch hält bis heim zu Muttern."
Die drei Gaswerksleute sahen einander stumm an – der Meister dachte an seinen zweiten und letzten Sohn, der jetzt irgendwo in Frankreich – hoffentlich – im Gefangenenlager steckte – der Nachwächter auch an seinen Sohn, der klein und schwächlich wie er war, vor ein paar Monaten beim Kommiss an einer Lungenentzündung draufgegangen war – der Maschinist dachte an Frau und Kinder, die als Evakuierte irgendwo draussen auf dem Land im Machtbereich der "Feinde" waren. "Also, erbarmt sich keiner, ihr Herrn?"
"So, das klingt schon anders: ihr Herren! Du Schafskopf, das sagt man nicht zu einem alten Mann, der sein Lebtag seine Pflicht getan hat – das merken sie sich, sie junger Mann! –" raunzte Eusebius Müller. "Aber jetzt kommens halt mit, ich hab noch zwei Anzüge von meinem Buben im Schrank hängen, da könnt ihnen einer davon passen – die Mutter wird ja wieder weinen, aber es muss ihr schon recht sein, man muss ja den Menschen helfen –"
"Prima, ich komm gleich mit. Vielen Dank auch!"
Wieder der Blick des Gehetzten, rings um sich schaute er, als ob sie schon aus allen Ecken herauskämen, die Maschinenpistolen im Anschlag.
"Meister – jetzt bräucht ich halt noch was – Papiere müsst man haben, Meister, ihr habt doch sicher einen schönen Stempel im Büro, so: Stadtwerke, Abteilung Jaswerk – da könntet ihr mir doch eine Bestätigung schreiben, so unjefähr:
Monteur Josef Nietkopf von Fa.Pintsch-Bamag aus Köln hat seit soundsovieltem in unserm Werk uff Montage jearbeitet, heute Arbeit fertiggestellt, nach Hause



entlassen! Den soundsovielten, Stempel, Friedrich Willem! Dass ich bald heim komm nach Kölle! Det lässt sich doch machen, Herr Oberwerkmeester, nich wahr – haben euch ja ooch jut verteidigt heut Nacht!" Werkmeister Maurer musste lachen.
"Soso, jut verteidigt – und wo sind denn ihre neun Männer? Die werden wohl auch noch kommen zum einkleiden und Ausweis schreiben!"
"Weess ich nich, kann schon sein, dass noch ein paar ankommen – aber mindestens dreie haben sich jestern abend schon dünne jemacht, und wo die anneren heute früh jeblieben sind, det weess ich ooch nich!"
"Also, meinetwegen, kommen sie dort vorne ins Büro, wenn sie sich entmilitarisiert haben, werden dann sehen, ob wir den Stempel finden!"
Auf solche Weise begann also die Bürotätigkeit im Gaswerk nach der Besetzung zu sehr früher Stunde – im Lauf der nächsten Stunden stellten sich dann noch mehrere Wehrmachtsangehörige in Räuberzivil ein und begehrten Ausweis und Stempel. Herr Lebegern, vom Luftschutzdienst erlöst, willfahrte ihnen gern im Rahmen seiner Möglichkeiten. Sonst ereignete sich eigentlich den ganzen Vormittag gar nichts und von der gewaltigen Streitmacht des Westens liess sich kein Uniformknopf sehen – bis zum Mittag, da dröhnte plötzlich ein gewaltiger Panzer am Wohnhaus vorbei zum Werkstor, schwenkte dort, wo die Strasse endete, sein mächtiges Kanonenrohr drohend hin und her, wendete auf der Stelle, dass die Pflastersteine herausflogen, und brauste die Strasse zurück.
Erst zwei Stunden nach dieser wortlosen Demonstration der neuen Macht hatte Korn Gelegenheit, zum ersten Mal seine mühsam erworbenen Englischkenntnisse nicht weniger mühsam an den Mann zu bringen. Eines jener seltsamen Fahrzeuge war unters Tor gerollt, die, wie man bald erfuhr, "Dschiebs" genannt wurden – warum, das wusste niemand. Die zwei Insassen, lange Kerls in graugrünem Khaki und mit seltsam kugeligen, netzüberzogen Helmen, bemühten sich, einem kleinen Häuflein von Menschen ihre Wünsche verständlich zu machen – der elfjährige Dieter, Sohn des Pförtners, war der einzige, der ein bisschen von ihrer Sprache in der Schule gelernt hatte und zu dolmetschen versuchte.
"Have you guns?" war ihre Frage und Dieter und auch Karl erfassten schnell, dass alle Waffen jeder Art abzuliefern seien, desgleichen auch alle Fotoapparate.




"Radios auch?" wollte Dieter vorwitzig fragen, doch bevor er das auf englisch herausbrachte, fuhr ihm sein Vater übers Maul.
"Du spinnst wohl?"
Karl versicherte den Soldaten, dass ausser ein paar Pistolen und den zehn zerschlagenen italienischen Gewehren keinerlei Waffen im Werk seien.
"Show me" antwortete der eine und setzte sich mit langen Schritten in Trab, sodass Karl kaum mitkam, besah sich in der Werkstatt die Trümmer und stiefelte zum Jeep zurück.
"Three a clock we come back, all arms are here", zeigte auf seine Armbanduhr, sprang mit einem Satz auf den Wagen und fort waren sie. "We will have german guns, we have seen german soldiers here!" rief er noch zurück.
Nachtwächter Müller, der sich nach seinem Vormittagsschlaf verpflichtet fühlte, angesichts der aussergewöhnlichen Verhältnisse dem Werk auch am Tag zur Verfügung zu stehen, machte den Anfang mit der Abrüstung.
Langsam öffnete er die Pistolentasche, entnahm ihr die Waffe, entlud sie vorsichtig und legte sie auf den Tisch im Pförtnerraum, drei Päckchen mit je 10 Patronen daneben; dann schloss er die Tasche wieder, zuckte stumm die Achseln und machte sich auf einen Rundgang durchs Werk.
Eine weitere Dienstpistole folgte, die vor nicht allzu langer Zeit dem diensttuenden Werkmeister zugewiesen worden war, danach brachte der Herr Oberbaurat seine Offizierspistole, mit eingraviertem Namen aus dem ersten Weltkrieg herübergerettet.
"Schade um das schöne Stück" meinte Torwart Nägele, ein ehemaliger Soldat, und hatte, kaum dass der Oberbaurat wieder gegangen war, die Waffe schon verschwinden lassen und gedachte damit dem Chef einen grossen Gefallen zu tun. Der aber war klug genug, dass er noch zurückkam und sich solche Gefälligkeiten energisch verbat.
Korn freute sich, dass er nichts dergleichen abzuliefern hatte und noch mehr, dass seine Fotogeräte schon lange im sicheren Versteck waren; damit aber wenigstens etwas aus dieser Branche abgeliefert würde, legte er noch seine uralte Plattenkamera, Format 9 x 12, auf den Tisch (er hatte sowieso das Gefühl, als ob die beiden Soldaten den Ablieferungsbefehl für Fotoapparate aus eigener Machtvollkommenheit erlassen hätten).



Damit wäre die Aktion abgeschlossen gewesen, wäre nicht plötzlich Müller angehastet gekommen:
"Herr Baurat, Herr Baurat, in dem Schuppen hinten am Koksplatz liegen eine Menge Gewehre, Munition und Handgranaten und Stahlhelme auch dabei!"

Das gab einen Schreck: hatten doch da die zehn Verteidiger von gestern Abend in einem letzten Anfall von deutscher Ordnungsliebe ihre Gewehre nebst Munition, Stahlhelmen und Handgranaten und einer Panzerfaust fein säuberlich im Schuppen deponiert, statt sie einfach draussen im Feld wegzuschmeissen! Und wenn jetzt um 15 Uhr die zwei Soldaten in ihrem Jeep wiederkämen, denen Korn versichert hatte, dass es weiter keine Waffen mehr im Werk gäbe, so würden sie ihn womöglich zu ihrem Hauptmann schleppen und der würde ihn kurzerhand an die Wand stellen und niederknallen lassen! Und dem Herrn Staab hätte es ebenso gehen können, wenn man seine vom Torwart Nägele versteckte Pistole mit dem eingravierten Namen wieder gefunden hätte – das waren so Vorkommnisse, nicht aus der Phantasie entsprungen, sondern da und dort schon wirklich passiert!

Karl liess zu Hause von seinen Sorgen nichts verlauten, aber er war den ganzen Nachmittag recht unruhig – aber als nachmittags um 3 Uhr kein Jeep kam und um 4 auch nicht, da liess die Aufregung allmählich nach. Wer weiss, vielleicht waren die zwei Soldaten schon längst wo anders tätig und hatten das Gespräch im Gaswerk schon lange vergessen!

So ähnlich war es wohl auch wirklich, denn erst um sieben Uhr kamen zwei andere Soldaten auf einem grösseren Wagen, luden alle Waffen auf, schmissen Karls alte Plattenkamera hohnlächelnd wieder auf den Tisch und fuhren ohne ein Wort davon.

Zum Abschluss des Tages und zum Zeichen, dass der Krieg eben noch nicht ganz zu Ende war, dröhnten und gurgelten dann in der Abenddämmerung noch zwei Salven schwerer Geschütze über das Werk hinweg, ostwärts in weiter Ferne – danach war völlige Ruhe und mildes Frühlingsdunkel und jedermann genoss nach Jahren endlich einmal wieder die Wohltat eines langen ungestörten Schlafes.




dreifels ag