5 - Dem Ende entgegen


Zu tun fand Karl eigentlich nichts Richtiges mehr – nur zu warten auf das ungewisse Ende des Krieges, das in wenigen Stunden da sein, aber sich auch noch Tage oder Wochen hinziehen konnte – das zehrt an den Nerven. "Da und dort brennts in der Umgebung" berichtete Karl. "Traurig," meinte Ilse, "dass jetzt zum Schluss noch so viel kaputtgehen muss.“ "Hast du übrigens gesehen, ob das Schlösschen Schönenbach noch steht, wo wir unsere Sachen ausgelagert haben?" "Donnerwetter nein – daran haben wir gar nicht gedacht, man müsste es doch vom Turm aus sehen! Und dabei liegen meine liebsten Bücher alle dort, bei den netten Baronessen!" "Ja, Vater, dann geh doch noch einmal rauf auf den Turm, ich komme mit!"

Gaswerk mit Gärtnerei, Silo und Turm






Hedwig sprang schon davon, Ilse schaute ihr missbilligend nach:
"Das ist doch wirklich nicht nötig, es ist doch so gefährlich da droben – bei den vielen Tieffliegern –"
"Wir kommen ja gleich wieder, Hedwig will halt das Schlösschen wenigstens von Ferne mal kennen lernen – und unser Turm hat ja dicke Mauern" tröstete Karl seine Frau und stieg mit Hedwig nochmals hinauf. Sie suchten eine Weile mit dem Fernglas, bis sie zwischen Wald und Busch das unversehrte Schlösschen feststellen konnten. Aber sonst rauchte und qualmte es da und dort, und da immer öfter Granaten durch den blauen Himmel heulten und feindliche Jäger umherkurvten, stiegen sie bald wieder herunter.
"Jetzt wird aber hier geblieben" empfing sie Ilse, "und zu Abend gegessen." Aber es wurde eine unruhige Mahlzeit, ein paarmal krachten schwere Salven irgendwo draussen. Schliesslich, als es dunkel wurde, setzte sich Karl an den Schreibtisch und schrieb an einen Freund, der als Ingenieur in einem Flugzeugwerk mit seiner Abteilung in einen bekannten Kurort verlegt worden war.

Lieber Bernhard!
Bevor wir endgültig von der Umwelt abgeschnitten werden, möchte ich Euch schnell noch ein Lebenszeichen geben. Eben heute Nachmittag krachts überall in unserer Gegend von Sprengungen, nach der unheimlichen Ruhe der letzten Tage. Flugplatz, Flakkaserne, Eisenbahnbrücken gehen in die Luft und vor ein paar Stunden sind an unserem Haus vorbei die ersten Panzerfaustmänner nach Westen marschiert. Es scheint Ernst zu werden, nachdem schon seit einer Woche dauernd der Geschützdonner in der Ferne grollt und der grosse Ausverkauf in der Stadt, in Läden, Kasernen, Magazinen usw. heute seinen Höhepunkt erreicht hat. Hoffentlich dauert die Verteidigung unserer Stadt nicht allzu lange. Wir im Gaswerk sind nicht so scharf auf kriegerische Lorbeeren, unser Volkssturm hat nur ein paar alte Flinten und wird den Angriff hoffentlich im Keller überleben (23 Uhr).
Das Schreiben ist unterbrochen worden, da gegen 22 Uhr sich wieder Granaten in unserer Gegend mit Geheule bemerkbar machten und das Licht ausging. Es krachte heftig in verschiedenen Richtungen, aber nach einer Stunde hat sich alles wieder



einigermassen beruhigt und ich kann weiter schreiben.
Unser Ländle werden wir uns wohl vorläufig aus dem Kopf schlagen müssen; ich war an Ostern noch einmal allein draussen, natürlich war wieder allerhand demoliert, der Fensterladen aufgebrochen, ausser dem Kahn jetzt auch noch die Schubkarre und der ganze provisorische Zaun am gepachteten Land verschwunden, mitsamt dem Einfahrtstor. Nur das von Dir so schön gemalte Schild "Privat kein Zutritt" haben sie dagelassen, das hab ich jetzt hoch oben an einem Baum angenagelt.
(23 Uhr 30).
Jetzt haben sie wieder was hingemacht, es hat einen ganz furchtbaren Krach gegeben, und ich musste mich wieder draussen umsehen; war aber nichts festzustellen, vielleicht war es die Autobahnbrücke. Es gibt halt anscheinend doch noch eine ganze Anzahl militärischer Stellen, die sich an die Zerstörungsbefehle halten und sagen: "Nach uns die Sintflut!"

Klasse der Mädchenschule mit Moni
in der Pension in Füssen



Hedwig ist jetzt seit 14 Tagen glücklich wieder hier; sie hatte sechs wenig schöne Wochen als Kriegshilfsdienstlerin in einer Fabrik in der Oberpfalz, wo die Mädchen




zuletzt direkt eingesperrt wurden, da einige von ihnen ausgerückt waren. Aber schliesslich hat man sie doch gerade noch rechtzeitig weggelassen. Herrlich weit haben wirs gebracht, dass wir unsere Töchter in Fabriken einsperren lassen müssen!
Die Moni hats bis jetzt noch am besten in ihrem Gebirgs-Kurort, aber hoffentlich kriegen wir sie auch bald wieder einmal zu sehen. Die Kinder freuen sich dort noch des Lebens und des herrlichen Frühlings; aber für uns anderen ist es ein Jammer, was diese wahnwitzigen Menschen aus unserem herrlichen Deutschland gemacht haben, und aus ganz Europa! Nürnberg ist nun wohl auch ganz und gar zerstört, was wohl meine zwei Schwestern dort machen werden? Die eine hatte ja schon im Januar ihre schöne Wohnung verloren. Hoffentlich hat der ganze Wahnsinn bald ein Ende! Jetzt werde ich aber doch bald ins Bett gehen, man hört zwar immer noch allerlei Schiess- und Motorengeräusch. Aber hoffentlich lassen uns wenigstens die Flieger heute Nacht in Ruhe! Luftgefahrmeldungen gibt’s ja heute keine mehr. Dir und Deiner Familie weiter alles Gute und herzliche Grüsse und hoffentlich auf baldiges Wiedersehen.
Dein Karl Korn mit Ilse und Hedwig.

Der Brief wurde in einen Umschlag gesteckt und frankiert, aber er kam mit seiner letzten Hitlermarke nicht mehr in einen Briefkasten .
Schon am späten Nachmittag hatte man in der Ferne die mahlenden Geräusche der Panzerketten gehört, einmal waren ganz in der Nähe ein paar blecherne Geschosse mit dumpfem Knall explodiert, denen halbverbrannte Flugblätter entquollen.
Da die Lage wirklich alles andere als gemütlich war – liefen doch Gerüchte um, Wahnwitzige wollten die Stadt ernstlich verteidigen und für diesen Fall stünden auf der anderen Seite 1000 Bomber startbereit, sie dem Erdboden gleich zu machen – so entschloss sich alles, gleich im Luftschutzkeller zu schlafen, familienweise zusammen, wie man zusammengehörte.
Genau um Mitternacht gab es dann da unten eine freudige Begrüssung, Staabs langer fünfzehnjähriger Fritz kam plötzlich nach Hause; nach allerhand Kreuz- und Quermärschen war seine HJ-Volkssturm-Kompanie wieder in die Nähe der Heimatstadt gekommen und da hatte die Vernunft über den Fanatismus gesiegt; die




Buben waren einzeln abgehauen und zu ihren Müttern heimgekehrt.
Danach wurde es still, bis plötzlich die Schläfer durch das letzte Sirenengeheul aus dem unruhigen Schlummer gerissen wurden: "Feindalarm!"
Korn und Staab gingen hinüber zum Befehlsraum, schalteten den Radio ein – aber es war ja kein Strom da. Sie warteten auf dem mondhellen Hof "auf den Feind". Aber es kam keiner. Von der Werkstatt her hörten sie helles Klirren, da wurden die Gewehre zerschlagen – sonst nur das monotone Dröhnen der Panzer, jetzt schon viel näher.
Von den Werkleuten liess sich niemand sehen, auch die nahen und fernen Geräusche verstummten; es was eine Weile totenstill – Staab sah auf die Uhr: "Ein Uhr 00, den 28. April 1945, notieren wir das als Kriegsende und legen wir uns wieder zu Bett!"
Fröstelnd begaben sie sich in den warmen Keller zu ihren Frauen und tatsächlich schliefen sie dort bis ½ 6 Uhr so ruhig und fest, dass eine geschickte feindliche Patrouille sie ohne weiteres hätte ausheben und abtransportieren können.
Es kam aber keine Patrouille, nur eine kleine Infanterie-Schiesserei ganz in der Nähe liess Karl plötzlich aufschrecken.

Karl macht sich Gedanken über die Zukunft






Was war nun eigentlich los? Ob das Telefon wohl noch ging? Ja, es ging, und er rief den Chef an. Der sass mitten in der Stadt im Bunker des Gauleiters und freute sich, dass er durch die Frontlinie hindurch angerufen wurde und dass draussen alles in Ordnung war.
"Ja, sie sind doch schon im besetzten Gebiet, wissen sie das noch gar nicht? Hat sich bei euch noch niemand aus Amerika gemeldet? Die westlichen Vororte sind doch schon seit ein paar Stunden besetzt!"
"Aha, darum die Schiesserei heute Nacht – aber bei uns ist alles ganz ruhig geblieben, nur ein paar Infanterieschüsse jetzt eben."
"- teilweise sollen noch Strassensperren an den Bahnunterführungen sein, da hat man Eisenbahnwagen auf die Strasse hinuntergestürzt – aber mit denen werden die schweren Panzer schnell fertig sein und dann kommen wir dran –" er dämpfte die Stimme – "der General und der Gauleiter haben ihre Rucksäcke schon gepackt – sie, in dieser Nacht hab ich allerhand erlebt, das kann ich wohl sagen – wir beide sind nicht die einzigen, die durch die Front hindurch telefonieren, da haben sich gestern und heute schon einige Fäden angeknüpft, das ist gut für uns -"
Dann ein scharfer Knall – wieder Stimmen, dann ganz leise der Chef: "Jetzt hat sich der Doktor Stahl in den Kopf geschossen – der stellvertretende Gauleiter – was ist denn nun los da vorn an der Tür – aha, da sind die Amis!" Im Hörer knackte es, das Gespräch war zu Ende, die Stadt war besetzt. Zu
ENDE!
Das war es also, das qualvoll ersehnte, das fast nicht mehr möglich erscheinende
ENDE.
ENDE der Todesangst versprach es den Überlebenden – kein
ENDE ihrer Seelenqualen konnte es denen bringen, die ihre Liebsten verloren hatten. HOFFNUNG bedeutete es denen, deren Verluste sich auf Hab und Gut beschränkt hatten. Im ewigen
NICHTS liess es die Millionen von Toten ruhen. Unvorstellbar die Bilanz des Krieges, unter die in diesem Augenblick der Abschlussstrich gezogen wurde – ein Zwischenabschluss war es nur, hier wurde er heute gezogen, woanders ein paar Tage später – unfassbar die Summe von Grauen und Greuel, die zerschmetterten,




erstickten, verbrannten, zu Tote gequälten, zu lebenden Leichnamen verstümmelten Menschen, die einst zufriedene oder nach Glück strebende Männer, Frauen, Kinder waren, von ihresgleichen ermordet worden, von MENSCHEN, von Wesen, die sich als Krone der Schöpfung betrachteten, die alle zur Liebe und zum Glück geboren waren!
Sollte ein solches Inferno unwiderrufliches Schicksal sein, gewollt von dem Gott, zu dem sie doch alle angeblich beteten, die Mörder wie die Gemordeten? Sollte es nicht möglich sein, Vernunft und Menschenliebe so weit zu erwecken und zu festigen, dass künftig solche Selbstvernichtung nicht mehr möglich wird?
Karl seufzte, als er in der beklemmenden Stille seines blanken Wohnzimmers solchen Gedanken nachhing.
Kann man noch einmal an eine bessere Zukunft glauben? Schon zweimal in seinem Leben hatte Karl solche Zusammenbrüche einer Welt erlebt:

Karl als Soldat im 1.Weltkrieg 1914 - 1918



Als er aus dem ersten Weltkrieg nach Hause kam, war das 2.Kaiserreich zerschmettert! Wenn auch nicht von so elementaren Gewalten wie jetzt Hitlers 3. Reich. Wieder war ein Krieg zu Ende, über alle Vorstellungen grausig und mörderisch, aber die Menschen, die Jungen vor allem, setzten ihre Hoffnung auf eine




bessere Zukunft.

"Nie wieder Krieg!" hiess ihr magisches Losungswort. Aber wie schnell vergisst der Mensch. Wie nahe war der zweite Zusammenbruch! Die ewig Unbelehrbaren, die Geiferer und Hetzer verstanden es, mit "Dolchstoss" und „Schandfrieden" die Millionen gutgläubiger Dummer einzuwickeln und zu willenlosem Schlachtvieh zu machen. 1933 brachen die schwächlichen Reste der "Nie wieder Krieg" – Bewegung, brachen die Illusionen menschheitsgläubiger Jugend zusammen – und der Teufel hatte Deutschland und mit ihm Europa und die ganze Welt wieder in seinen Krallen.
    

Und jetzt?
"Frei von Hunger und Furcht" wollte man den Menschen machen. Ob man an eine Verwirklichung glauben durfte?
Ob man da nicht vorher die Menschen zu Engeln machen müsste? – und ob das ein Roosevelt oder Stalin oder Churchill fertig bringen würden? Erst einmal bei sich selbst und dann bei den Millionen, die bis jetzt getreue Knechte des Todes gewesen waren?
Doch
"es hofft der Mensch, solange er lebt"
und auf jeden Fall war jetzt einmal dem direkten, sinnlosen Morden ein Riegel vorgeschoben, man konnte wieder frei in Sonne und Licht atmen – wenn auch die Zukunft noch von recht dunklen Wolken verhüllt war und Millionen Menschen vielleicht noch Leid und Tod bevorstehen mochten.
Karl gab das einsame Grübeln auf und ging in den Keller – dort lag seine Zukunft, seine Familie, wenn auch leider noch nicht vollzählig, und war eben aus dem seit langem wieder einmal ungestörten Schlaf aufgewacht. Er gab Bericht von dem, was er gehört hatte und ging dann hinüber ins Werk durch den friedlich im Morgentau glänzenden Garten.






Morgentau, fiel es ihm da ein: hatte er nicht in den letzten Tagen im Londoner Rundfunk etwas von einem Morgentau-Plan gehört, von einem Amerikaner namens Morgentau, der den Deutschen im kommenden Frieden nur das Leben der allerprimitivsten Ackerbauern zugedacht hatte, sie restlos von allem technischen Fortschritt, von aller Industrie und von allem Komfort ausschliessen wollte – der Anfang war ja schon gemacht durch die riesigen Zerstörungen der Grossstädte und Industriebezirke. Ob es wirklich das Schlimmste war, was dieser Herr Morgentau da den Besiegten zugedacht hatte?

Zier-, Nutz- und Obstgarten der Familie Staab


A.R.:Auszug aus dem Buch „Die Kaisermeile“ von Franz Häussler
„Ab 1938 war das Riedingerhaus Stadtwerke-Verwaltungszentrum. Unter dem Bau wurden grosse Bunker ausgebaut, auf denen die nach der Bombardierung gesprengten Aussenmauern einen Trümmerberg bildeten. Hier wurde mit der Gefangennahme des Stadtkommandanten Fehn am Morgen des 28.April 1945 der Krieg in Augsburg beendet. 1953/54 erstand auf dem Areal das neue Stadtwerkehaus.“
In diesem Haus war Karl Korn ab 1948 als Leiter des Heizung- und Maschinenamtes tätig bis zur Pensionierung.



dreifels ag