3 - Der Kriegsgott ist müde
Die Millionen von Menschen, die er wahllos verschlungen hatte, samt Städtchen und Schiffen, samt Dörfern und fruchtbaren Feldern, all das hatte seinen ungeheuren Wanst gefüllt und ihn faul und träge gemacht. Er lag vollgefressen, eine ungeheure Last, über ganz Europa und streckte seine tausend scheusslichen Arme über den ganzen Erdball aus. Da und dort zwickte und quälte er die geplagten Menschen, täglich rülpste er ein paar Mal und stiess Bombengeschwader aus seinem widerlichen Maul, hie und da gab er wieder einmal einen Beweis seiner sinnlosen Zerstörungsmacht: vernichtete 100 000 Mann in einer Kesselschlacht, verbrannte Hundertausende von Flüchtlingen in der bis dahin verschonten Stadt Dresden, zerstörte mit einem leichten Hauch aus seinem Mundwinkel die heitere Schönheit von Würzburg oder die stolze mittelalterliche Pracht von Nürnberg.
Sonst aber begnügte er sich mit dem Bewusstsein, dass durch feierliche Verkündigung sein Geschäft, der Krieg, TOTAL geworden war und dass er stets und überall, im Grossen wie im Kleinsten, die Menschen seine Allgegenwart und Unentrinnbarkeit spüren lassen konnte. Was wollte da dieser alte, kindisch gewordene und von seinen eigenen Priestern verratene Christengott noch sagen? Nein, er, der uralte Kriegsgott, war der Allmächtige geworden. Und er genoss seine Macht; ja, wenn es ihm in seinem vollgefressenen Sättigungszustand gerade einmal passte, da duldete er vorübergehend auch einmal die Groteske und die Burleske, ja – warum nicht auch einmal die Idylle? Die vermag ja den Menschen manchmal blind zu machen für die gefährlichen Momente des Daseins – Hauptsache, dass ein rascher Blick aus einem der todbringenden Augen des Kriegsgottes von einer Sekunde zur anderen die Idylle zum Inferno wandeln konnte! Bomben in kleine Städte werfen, Eisenbahnzüge voller Menschen in Brand schiessen, Landpfarrer und Dorfschullehrer
wegen Wehrmacht-Zersetzung
standrechtlich erschiessen, Deserteure aufhängen, U-Bootsleute in ihren Blechsärgen ersäufen, Juden totprügeln, vergasen oder lebend begraben, Kriegsgefangene zu Tausenden verhungern lassen.
Manche Einrichtungen waren aus einer gewissen Langweile und Übersättigung des Kriegsgottes entsprungen und zeigten die verschiedenartigsten Gesichter je nach seiner Laune.
Da war zum Beispiel der sogenannte Volkssturm.
An sich ein Gedanke von herrlich diabolischer Art: sechzigjährige Grossväter und sechzehnjährige Buben, kaum ausgebildet und mangelhaft bewaffnet, regimenterweise in Kesselschlachten zu "verheizen"!
Das geschah stellenweise droben im Norden und Osten, aber in der Stadt, wo unsere Geschichte spielt, blieb der Volkssturm fast völlig Idylle – wie überhaupt dort der Krieg, so grausig er auch vorher schon gewütet hatte, langsam und ohne heftige Effekte verlöschte.
Alles, was an Männern noch vorhanden war – und das waren nicht wenige, denn die grosse Rüstungsindustrie zählte viele Unabkömmliche – wurde zunächst erfasst und schriftlich registriert. Das waren in Karls Vorort die schlimmsten Stunden der ganzen Volkssturm-Geschichte, denn man hatte zu dem Zweck ein paar hundert Männer in einen Schulsaal bestellt, in dem vielleicht Platz für fünfzig gewesen wäre. Unvorstellbares Gedränge war die Folge – aber in zwei Stunden war das Unmögliche geschafft, alle waren in die Listen eingetragen und der Saal hatte sich wieder geleert, ohne dass Bomber oder ein Tiefflieger das schöne Ziel entdeckt hatten. Acht Tage später versammelten sich die gleichen Männer zur ersten Übung draussen am Stadtrand, vor dem Tor einer Kaserne. Sie wurden von ein paar gemütlichen Herren in drei Kompanien eingeteilt, und der oberste der Herren, der sich als Bataillonskommandeur vorgestellt hatte, befahl fürs erste Marschübungen: in Kolonne zu Vieren antreten und dann im Gleichschritt eine Weile im Viereck herummarschieren, jede Kompanie für sich, und dabei achten, dass der jeweilige innere Flügelmann bei der Schwenkung schön auf der Stelle trat.
Das war für Gediente, wie es die meisten Alten waren, ein Kinderspiel, und auch für die anderen
nicht schwer – aber auch auf die Dauer etwas langweilig, weshalb die
drei Kompanieführer nacheinander „Halt“ und „Rührt euch“ befahlen. Auf dem Stoppelacker waren drei grosse Strohhaufen gelagert, und bald stand bei jedem dieser Haufen eine Volkssturm-Kompanie, Zigaretten rauchend (soweit vorhanden) und vorsichtig politisierend, in voller Deckung natürlich.
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Koksabgabe neben Kohlensilo (1916) |
Karl nahm sich vor, bei der nächsten Übung unauffällig zu fehlen. Aber als eine Woche später die Kompanie zum Scharfschiessen befohlen wurde, wieder vor das Tor der Nachrichtenkaserne, da war er doch neugierig und ging pünktlich hin. Aber da war diesmal nichts los, weder Kompanieführer noch Feldwebel waren erschienen – offenbar hatte man sie bei der Einladung vergessen – und so verkrümelten sich die Volkssturmmänner nach einer halben Stunde wieder.
Die nächste Ausbildungsveranstaltung fand nicht auf freiem Felde, sondern in einem
Kino statt und das lockte immerhin. Ob die gezeigten Filme den Kampfesmut des
Volkssturmes zu heben geeignet waren, war die andere Frage, denn es wurden erbitterte Kämpfe um ein zerschossenes russisches Dorf so realistisch vorgeführt, dass sie in jedem Volkssturmmann nur den einen Wunsch erwecken konnten, es möge ein recht tiefer Keller erreichbar sein, falls man irgendwie einmal in solche Kämpfe verwickelt werden sollte.
Danach passierte eine ganze Weile lang gar nichts.
Und dann wurde der ganze Sturm neu eingeteilt, jeder Industriebetrieb bekam seine eigene Kompanie.
Jetzt war endlich der Tag gekommen für Herrn Oberingenieur und Leutnant der Reserve a.D. Richard Wagner – einen kleinen beweglichen Sachsen – der das Kommando über die Gaswerks-Kompanie übernahm, während Oberbaurat und Baurat sich mit der bescheideneren Rolle der Zugführer begnügten.
Herr Wagner setzte gleich eine Übung an, wirklichkeitsnah und betriebseigen. Der Grossteil der Belegschaft nahm volle Deckung hinter Koks-und Kohlenhaufen, der Kompanieführer demonstrierte wirksame Tarnung mit Zweigen und dürren Gräsern, drei jüngere Arbeiter übten erfolgreiches Anschleichen einer Patrouille zwischen Bretterzäunen und abgestellten Eisenbahnwagen.
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