2 - Der Apfel


"Komm, hier ist noch ein Apfel!"
Karl nahm den Apfel, betrachtete ihn von allen Seiten: "Oh, so ein schöner runder roter Apfel! Viel zu schade zum essen, du und die Millionen anderen schönen, roten Äpfel! Mein Liebchen, weisst du was? Wir nehmen den Apfel und verlassen mit ihm diese böse, mörderische Welt, diese verkommene Menschheit! Wo kein Flieger hinkommt und keine Sirene brüllt, gehen wir hin mit ihm und verzehren wir ihn und seine zwölf sauberen braunen Kerne stecken wir in die Erde, und die liebe Sonne lässt zwölf Apfelbäumchen daraus wachsen, von denen leben wir dann wie Adam und Eva im Paradies, von den Früchten des Gartens wie die ersten Menschen –"
"Und unsere kleine Gärtnerin muss auch mitkommen in das Paradies, und ihre grosse Schwester natürlich auch, das wird fein – oh du Träumer ..."
"Was heisst da Träumer? Heut ist der erste Frühlingstag und ich will ins Paradies!"
Karl sprang auf, nahm den Hörer ab, rief Herrn Piffke an: "Herr Piffke, sie sind doch sicher heute Nachmittag daheim in ihrem Garten – wären sie vielleicht so nett und würden mich für ein paar Stunden vertreten als Luftschutzleiter? – Ja – das ist sehr nett, danke schön!"
"Sind die Fahrräder aufgepumpt – nein? Das werden wir gleich haben – gutgegangen, wieder einmal Glück gehabt mit den alten Schläuchen –"
Im Sonnenschein durch die Vorstadt mit den wenigen Menschen und ärmlichen Häusern, an den Fabriken vorbei, an langen Reihen rauchgeschwärzter Ruinen.
Dann am Fluss entlang, wo in den Büschen die ersten Knospen spriessen, während die mächtigen alten Pappeln noch unbewegt wie schwarze Säulen in den Himmel ragen. Über die grosse Brücke, zwischen Reihen von Siedlungshäuschen hinaus auf die lange gerade Landstrasse, wo neben der mit Hütten und Baracken angefüllten




Kiesgrube die zwei Flakbatterien ihre hässlichen Rohre in die Luft strecken.
Ein Stückchen weiter knirscht es plötzlich unter den Fahrradreifen. "Teufel, was ist denn das? Alles mit Kies bestreut – da schau mal rechts auf den Acker – vier grosse Löcher mitten in der schönen grünen Saat, so weit hier draussen! Am Ende werden sie uns unser Paradies auch noch zerstören!"
Missmutig tritt Karl in die Pedale, aber für diesmal waren die vier Bombentrichter doch das letzte Kriegszeichen auf ihrem Weg.
Ein Trostblick, die Berge! Der föhnige Frühlingstag liess die Gipfel aufleuchten – unerreichbar zwar für heute, aber doch Hoffnung kündend.
Bald biegen Ilse und Karl von der grossen Strasse ab in das Dickicht der Flussauen, an einem breiten klaren Bach entlang zog sich der kaum erkennbare Pfad hin und her; sie müssen die Räder schieben.



Der verlorene Bach


Mit den Velos in die Auen







Gelbe Blüten des Huflattichs leuchteten hie und da auf lehmigen Bodenstellen, der lila Seidelbast stand duftend in voller Blüte – Karl öffnete ein unversperrtes Türchen, das plötzlich im Wege war – und die beiden standen auf ihrem eigenen Grund und Boden.

Moni vor der grünen Hütte


Alles war noch da, wie sie es verlassen hatten: das grüne Hüttchen mit den vier Strohsack-Lagern. "Sieh mal, meint man nicht, die Fichten wären schon wieder gewachsen? Wie lächerlich klein sind sie doch gewesen, als wir das Grundstück vor zwölf Jahren gekauft haben!" Die grosse Werkzeugkiste wie auch die Wand mit der Bank und den Kleiderhaken waren noch da. "Sieh, da ist doch ein richtiger Pfad getreten von dem Türchen bis hierher – das ist doch nicht von uns, wer mag sich da eingenistet haben?"
"Droben in der Fabrik beim Bahnhof arbeiten Russen, Zivilarbeiter, sie wohnen in einem kleinen Häuschen und sicher sitzen die an jedem schönen Tag nach Feierabend hier an der warmen Wand – soll ihnen vergönnt sein! Und Schaden haben sie uns ja keinen gemacht –"




Der Steg über den Bach zum Nachbargrundstück


Karl trat auf den schmalen Steg, der über den Bach führte und einen Blick auf das Nachbargrundstück gestattete; hinter einem buschbestandenen Erdwall war da eine ähnliche Hütte wie hier zu sehen, aber nichts rührte sich drüben.
"Kein Mensch da, an so einem herrlichen Frühlingstag! – Aber das ist eben der totale Krieg: keiner hat Zeit mehr für sich selber, alles einberufen, dienstverpflichtet, Flakdienst, Luftschutzdienst, Überstunden, Volkssturmdienst, Teufelsdienst, Höllendienst – und was sie sonst noch alles erfinden werden – wer hat da noch eine Stunde Zeit für sich selbst?"
"Also darum sei doch froh, dass wir wenigstens heute noch hier sein dürfen! O wie freue ich mich über diese warme Sonne und über diese Stille!" Auf der Bank unter dem vorspringenden Dach der Hütte war es wirklich schon so warm, dass man ein erstes Sonnenbad wagen konnte. Bald sassen sie beide, aller Hüllen bar, nebeneinander und blinzelten beschaulich in die Sonne. Wie wohl tat doch der Haut und dem ganzen Menschen diese erste Berührung mit Luft und Sonne nach diesem düsteren, nervenaufreibenden Winter! Karl betrachtete bedauernd Ilses Haut, die sich ziemlich blass von ihrem dunklen Haar abhob.





"Denkst du noch daran, wie braun wir sonst um diese Jahreszeit immer schon gewesen sind? Droben im Allgäu auf der Skihütte, das war doch noch ein anderes Leben!"

Karl auf einer seiner Skitouren



"Ja – aber jetzt sei froh, dass du hier sein darfst! Du hast sie ja lange genug ausgenutzt, diese Hütte im Allgäu – voriges Jahr noch, wie der grosse Angriff kam, da warst du noch droben im Schnee."
Ein klein wenig Bitterkeit schwang mit in Ilses warm tönender Stimme, aber Karl kannte diese Färbung der Stimme schon einigermassen.
"Wer kann etwas dafür, dass du von den Kindern und von deiner kranken Mutter nicht weggekonnt hast? Und wer konnte das vorher wissen, dass ich schon am fünften Tag wieder heimfahren und einen ganzen Tag lang unterwegs sein musste voller Sorge und Ungewissheit darüber, ob ihr alle überhaupt noch am Leben seid – diese Stunde Weg dann noch am Abend durch die rauchende, brennende Stadt..."





"Ja, ich gönn dirs ja, dass du mit deinen Skifreundinnen Sonnenbäder gemacht hast. Das brauchst du eben, um glücklich zu sein! Vor zwei Jahren warst du ja ganz in deinem Element, mit sechzehn Frauen hast du da droben gehaust ..."
"Und mit zwei Männern dazu, was kann ich dafür, wenn die anderen Männer alle im Krieg sein mussten? Und unter den Frauen, wer sind die gewesen, die bis zum letzten Tag alle Bergtouren mitgemacht haben? Während die anderen daheimgeblieben sind bei der Hütte und sich in der Sonne haben braten lassen? Wer sind diese tüchtigsten Frauen gewesen? Ich will dirs sagen: das war die Gertrud, die Frau von unserem Bundesleiter und wer noch ...?" Ilse sah Karl mit einem drolligen Ausdruck an:
"Ich weiss nicht, wen du da meinst ..."

Ilse verteilt das Essen in der Skihütte


"Das war eine gewisse Ilse, ein sehr vergessliches und neuerdings von ihrem Gatten sehr vernachlässigtes Weib ..."
"Oh ja, jetzt weiss ich‘s wieder – ich hab‘s ja schon immer gut gehabt, und heute auch wieder ... entschuldige meine Vergesslichkeit!"




Danach war wieder die grosse Stille um sie. Einmal brummte in der Ferne ein Flugzeug, zweimal rumpelte ein Güterzug über die Ebene. Das dumpfe Rauschen des Flusses drang durch das Buschwerk, bald stärker und bald schwächer je nachdem, wie der leichte Frühlingswind es herübertrug. Ein paar Meisen spielten zwitschernd um die jungen Fichten herum, hoch droben kreiste ein Bussard und stiess hie und da seinen schrillen Schrei aus. Paradiesische Einsamkeit.
Ein leises Geräusch liess Ilse und Karl aus einem Zustand aufschrecken, der sie zwischen Wachen und Schlaf schwerelos wiegte – und schon trat um die Ecke der Hütte ein junger Bursche, hellblond und sehr knabenhaft, die magere Gestalt in eine plumpe Uniform gehüllt, die Mütze in der Tasche. Überrascht stand er still, als er den Platz vor der Hütte besetzt fand – Röte überflog ein blasses Gesicht, er mochte wohl noch nicht oft einer nackten Frau gegenüber gestanden sein.
"Entschuldigung" murmelte er und wollte sich abwenden, da hatte ihn aber Ilse schon erkannt:
"Oh, das ist ja Christof – guten Tag Christof, das ist ja schön, dass du uns hier auch einmal besuchst! Es ist ja so schön heute hier, komm, zieh dich auch aus!"
Christof war eines von den vielen Kindern eines alten Studien-und Wanderfreundes von Karl, vor ein paar Monaten war er plötzlich aufgetaucht und war froh gewesen, dass er als junger Flakhelfer ein wenig Familienwärme aufsuchen konnte – war aber nur ein einziges Mal wieder gekommen, die Zufälle des militärischen Lebens hatten ihn wohl wieder weit weg verschlagen.
"Ja, und wie hast du uns hier gefunden?"
"Das ist ja wirklich mehr Zufall – ihr habt mir doch erzählt, dass ihr ein Grundstück hier draussen habt – und seit drei Tagen ist nun unsere Batterie gleich da droben an der Landstrasse in Stellung und heute Nachmittag habe ich dienstfrei, na, und bei dem schönen Wetter, da geht man eben ein wenig spazieren – das heisst, die meisten von meinen Kameraden gehen lieber in die Stadt oder ins Wirtshaus – ich bin aber auch ganz gern mal allein, draussen in der Natur. Und da dacht ich mir, hier herum muss doch das Grundstück sein – und da bin ich nun!"
Er hatte sich auf eine Ecke der Bank gesetzt, nachdem er den schweren Uniformrock ausgezogen hatte.




"Darf ich etwas hier bleiben? Mir ists schon ordentlich warm geworden bei dem Weg durch das Gebüsch, ohne Weg besser gesagt ... ich gehöre nun ja eigentlich nicht zu eurem Lichtfreunde-Verein, aber heute möchte man direkt mitmachen!"
"Komm Ilse, wir wollen mal sehen, ob unser Medizinball noch da ist" erhob sich Karl und zog Ilse mit sich. "Müssen dem jungen Mann etwas Zeit zum Eingewöhnen geben" flüsterte er ihr zu, als sie den schweren Deckel der Werkzeugkiste hoben und die dicke Kugel herausholten.
Christof hatte inzwischen den Rest seiner Uniform ausgezogen und trat hinaus auf die kleine Wiese – Karl stiess ihm den schweren Ball entgegen, Christof fing ihn geschickt auf und bald zeigte sich in lebhaftem hin und her, dass dieses etwas lächerlich aussehende lange Knochengestell recht beweglich und kräftig war. Ilse vor allem hatte oft schwere Mühe, seine scharfen Würfe abzufangen und liess als erste die Arme sinken:
"Genug für heute!" Auch die Männer fühlten sich erwärmt genug; der jetzt im zeitigen Frühjahr noch schön klare Bach lockte, und bald tummelten sich alle drei prustend und spritzend in seiner sanften Strömung.

An der tiefsten Stelle im Bach, dem Badeteich







Lange hielt man es freilich drin nicht aus. Handtücher hatte niemand bei sich, so rieb man sich die gerötete Haut mit den Händen trocken, rannte ein paar Mal um den Platz.
Ilse machte den Männern noch ein paar lockernde Gymnastikübungen vor und schliesslich setzten sich alle drei wieder auf die warmen Bretter der Bank.

"Der Apfel, wo ist der Apfel?" rief Ilse plötzlich aus. Auch bei den anderen meldete sich der Magen und alsbald vertilgte man einträchtig den einen Apfel und die zwei Stücke trockenes Brot.

Seltsam, wie bedächtig sich der junge Mann dem einfachen Genuss von Obst und Brot hingab – wenn man sein Gebaren mit dem anderer junger Leute verglich, die in dieser heisshungrigen Zeit grosse Bissen gierig hinunterzuschlingen pflegten!
Christof biss kleine Stückchen ab und kaute sie mit einem geradezu andächtigen Ausdruck, bis sie ins letzte zerfasert waren, sprach auch kein Wort dabei und erst als auch der Stiel des Apfels zerkaut und verschwunden war, da stellte er fest:
"Gut war das! Wann wird man sich wohl wieder einmal ein paar Pfund solcher Äpfel kaufen können?"
Er blickte im Halbrund umher.
"Warum habt ihr denn überhaupt nicht schon ein paar Dutzend Apfelbäume hier gepflanzt? Scheint doch gar kein schlechter Boden zu sein hier, nach dem verfilzten Dickicht zu schliessen, das alles bedeckt!"
"Warum? Ja, daran haben wir bis jetzt wirklich noch nicht gedacht – hatten ja die Äpfel viel bequemer zu Haus im Garten!
Und – versuch erst einmal, hier Platz für ein paar Dutzend Bäume zu schaffen, du glaubst es nicht, was das Schweiss kostet und Blasen an den Händen, dieses verfilzte Wurzelwerk der Weiden und Erlen herauszuhacken und herauszureissen, das meterhohe Gras noch dazu!
Wir habens schon ausprobiert, wie wir diesen kleinen Spielplatz hier angelegt haben, vier Familien haben dabei zusammengeholfen ein paar Monate lang, nur diesen Platz haben wir gerodet - aber das war in einer Zeit, wo man noch etwas mehr Kalorien bekam als heute, da konnte man auch noch etwas mehr Energie ausgeben!"




Ilse schwingt die Hacke zum Auenroden



Ilse lächelte, sie musste an ein Bildchen denken, das Karl damals von ihr geknipst hatte: in gestreiftem Pullover und Trainingshose, ein Hosenbein hochgekrempelt, stand sie da zwischen den jungen Fichten und erhob mit wütendem Gesicht den Pickel – sie machte gerne wütende Gesichter, wenn man sie in solchen Lagen knipste, aber insgeheim war sie doch stolz auf ihre körperliche Tüchtigkeit und suchte sich gerne die schwersten Arbeiten aus!
"... ja, was meinst du, Karl, ein paar Obstbäume wären schon recht hier draussen. Wollen wir nicht bald anfangen, einen Platz dafür zurechtzumachen? Heute gleich? Ich fühle mich heute so aufgelegt zum Bäume ausreissen!"
"Ein bisschen wirst du schon noch warten können! Heute wird es bald Abend werden und wann werden wir richtig Zeit haben für solche Schwerarbeit? Wann werden wir uns überhaupt wohl das nächste Mal hier verlustieren können? Wollen wir da nicht lieber erst einmal den sogenannten Endsieg abwarten?"
"Oh, Endsieg! Glaubst wohl auch das gleiche wie dein Kollege Jochen, der vorige Woche wieder einmal – aus bester Quelle natürlich – von der neuen Wunderwaffe




erzählt hat, die der Führer spätesten in drei Wochen einsetzen wird!"
"Sei still, ich mag heute nichts hören von Krieg und Politik – aber unsere Wildnis hier als Obst-Paradies – ich glaube, die Zeit wird bald dafür reif – hoffentlich erleben wirs noch –"
Christof hörte gespannt auf das Gespräch, das er mit seiner kleinen Bemerkung über Apfelbäume entfacht hatte und warf ein:
"Auf mich könnt ihr zählen, wenns so weit ist! Aber sagt mal, wie seid ihr denn überhaupt zu diesem herrlichen Fleckchen Erde gekommen?"
"Ja, das ist eine lange Geschichte ... das heisst, das eigentliche Dazukommen nicht einmal so sehr, aber alles, was daraus noch gefolgt ist ... Also, es ist jetzt fünfzehn Jahre her, da hat sich ein kleiner Kreis zusammengefunden von Freunden der Freikörperkultur – der Ausdruck war damals kurz vorher aufgekommen, weil man nicht mehr "Nacktkultur" sagen wollte ... Nacktkultur war in Verruf gekommen, man hatte das Wort für allerlei anrüchige Sachen benutzt, für Nackttänze in Nachtlokalen und so was. Also, davon wollten natürlich die Lichtfreunde nichts wissen, darum Freikörperkultur – bei der hatten wir uns angeschlossen, als wir ein paar Jahre früher fremd in unsere Stadt gekommen sind – ich hab damals gedacht, da wären die Reste von der alten Jugendbewegung zu finden – stimmte aber auch nicht ganz –"
"Nun erzähl doch schon, wie wir hier nach dem Gelände gesucht haben..." Ilse hatte die Geschichte schon öfters gehört und war in solchen Momenten manchmal etwas ungeduldig.
"Also, wir sind damals so ein Dutzend Leute gewesen und haben uns sonntags meist an einem sandigen Flussufer getroffen, weit unterhalb der Stadt.
Es war sehr schön dort, still und frei ... aber wenn man immer auf den gleichen Platz kommt und sich dort ganz nackt herumtreibt, so kommen manchmal fremde Leute vorbei und bald ist man im Gerede, kommt womöglich ins Kirchenblatt ...
Da haben wir uns gesagt, andere Leute haben auch abgeschlossene eigene Gelände, warum denn nicht auch wir?
Also sind wir mit Ausdauer auf die Suche gegangen, von der Stadtgrenze drei Stunden weit flussaufwärts (oberhalb der Stadt ist das Wasser sauberer), haben Anzeigen aufgegeben im Kreisblättchen, haben den und jenen gefragt und endlich haben wir zwei Bauern gefunden, die uns zusammen so etwas über einen Hektar




Auenland verkauft haben. Für lächerlich geringes Geld, denn solches Land, weit weg vom Dorf und meistens lauter Kies ohne Humus war damals wirklich nichts wert.
Und dann gings los mit Feuereifer, mit Schaufeln und Haken – da drüben überm Bach das Stück, das der Freund Lechner auf seinen Namen gekauft hat, das wurde das eigentliche Gelände. Du siehst ja dort noch den Erdwall, den wir im Viereck um den Faustballplatz aufgeworfen haben – alles in ehrlicher Handarbeit, ohne Bagger und so was – was haben uns die elenden Wurzeln für Schweiss gekostet. Eine Hütte haben wir auch gebaut, und einen Steg über den Bach herüber zu meinem Grundstück, das wir zunächst mehr als Reserve angesehen haben.


Ilse und Karl begutachten ihre Erfolge bei der Pflanzenzucht


So in zwei, drei Monaten hatten wir das alles geschafft – aber, was denkst du, haben




die Leute dann gemacht?
Krach haben sie angefangen untereinander. Statt sich über ihr schönes Gelände zu freuen!
Waren eben doch meistens nicht die Richtigen – ich war ja schon ein Jahr vorher nicht schlecht erschrocken, wie ich die bunte Gesellschaft zum ersten Mal nicht draussen am Fluss, sondern in der Stadt im Nebenzimmer von so einer Kneipe beisammen gesehen hatte – bei Bier und Gänsebraten, mit Zigarren und hohen Stehkragen und Stöckelschuhen und Kreissäge-Strohhüten – na, und es waren nicht wenige, die diesen Lebensstil auch hier draussen einführen wollten:
Saufgelage in der Geländehütte und solche Sachen – da haben wir uns natürlich gewaltig gewehrt dagegen und es gab einiges hin und her, Hinauswürfe und Rücktritte und so."
" Aber, Moment, das kann doch nicht ganz stimmen!" wunderte sich Christof. "Da hab ich doch im "Schwarzen Korps" so schöne Aufsätze gelesen über Probleme der Rassenhygiene, über die Schönheit und Reinheit des nackten menschlichen Körpers, mit Bildern sogar ..."
"Papier ist geduldig!"
" – und bei einem Freund hab ich auch vor Jahren schon Hefte gesehen von einer Zeitschrift, ich glaube "Deutsche Leibeszucht" oder so hat sie geheissen, mit Holzschnitten von nackten Menschen auf dem Umschlag und mit Photos von ebensolchen an der See und im Gebirge – und sogar Bücher solls geben von der Art, da hat ein Major Suren eines geschrieben: "Mensch und Sonne"...
"Stimmt, und ein anderer Berliner schrieb ein Buch "Dein Ja zum Leibe" mit vielen Bildern und in der Zeitschrift, von der du gesprochen hast, kannst du sogar Bilder sehen, die hier auf diesem Fleck gemacht worden sind ..."
"Ists möglich? Und dann noch der Führer selber und die Eva Braun? Man hört doch manchmal so was, die wären auch dafür ... Alkoholgegner und Vegetarier soll er ja auch sein!"
Karls Miene verfinsterte sich. Ilse spitzte neugierig die Ohren.
"Das steht auf einem andern Blatt. Habe auch schon dies und das reden hören – aber ich möchte jetzt nichts dazu sagen – vielleicht später mal! Also auf jeden Fall, 1933




mussten wir ganz unten durch, Kulturbolschewiken sagte man zu uns. Sie haben uns sogar einmal eine halbe Stunde lang verhaftet, als wir eine Versammlung im Restaurant „Weisse Schleife“ gehalten haben – mussten uns aber wieder laufen lassen, konnten nichts mit uns anfangen. Die Polizeidirektion war damals noch nicht braun genug, der Direktor hat mir sogar nach zwei Tagen meine beschlagnahmten Bücher und Zeitschriften mit Entschuldigung wieder bringen lassen. Jahre später erst hab ich gehört, was damals wirklich gespielt worden war: da war im Nebenzimmer die kommunistische Arbeiterjugend versammelt gewesen, die hätte man ausheben wollen! Hatten sich aber rechtzeitig verzogen – so wars, die Nackten und die Roten unter einem Dach!
Der Vorstand ist damals der Fritz Lechner gewesen – weisst du, dem jetzt noch das Nachbargrundstück gehört – ein Kerl wie ein Baum und treu, ganz zuverlässig und ordentlich. Der Fritz, dem ists nachher noch schlechter gegangen, der ist von eigenen Vereinsgenossen denunziert worden, hat Strafe bezahlen müssen und hat so viele Unannehmlichkeiten gehabt, dass er heute noch die Nase voll hat davon! Nie wieder Verein, dabei ist er geblieben – ist uns immer ein guter Nachbar gewesen und ists heute noch, aber von Organisationen, gleich welcher Farbe und Firma, will er nie mehr was wissen!"
"Und ihr selber, was habt ihr denn angefangen, wie alles so auseinandergejagt war? Zur SA seid ihr ja sicher nicht gegangen, so wie ich euch kenne, und zur SS auch nicht?"
"Ja, das war zuallererst nicht so einfach – wir haben uns in den Schoss der Kirche geflüchtet!"
"Schoss der Kirche? Hab noch nie was gemerkt, dass ihr Kirchenleute seid!"
"Sind wir auch damals nicht gewesen! Aber es gibt auch unter den Kirchenleuten Menschen, die nicht nur aufs Gebet- und Gesangbuch sehen, sondern auf den ganzen Menschen – und wir haben das Glück gehabt, dass wir keine Viertelstunde von unserem Gelände entfernt zwei solche Kirchenleute gefunden haben – Geistliche sogar waren es – die hatten zugegeben, dass der Herrgott die Menschen nackt geschaffen hat und dass sie sich deshalb nicht zu schämen brauchen, wenn sie sich mit ihren Frauen und Kindern nackt in der Sonne vergnügten – in einem versteckten Winkel drüben am Fluss hatten sich die ein Eckchen Land vom Flussbauamt




gepachtet."
"Und da habt ihr euch bei denen angeschlossen und dort hat es keine Schwierigkeiten gegeben?"
"Ja, dort waren wir einen Sommer lang gern gesehene Gäste – und bemerkt hat man wohl in der Öffentlichkeit nichts davon!"
"Und bei euch selber, hat man euch nichts weiter in den Weg gelegt?"
"Wegen der Freikörperkultur an sich nicht direkt – indirekt aber schon!
Weisst du, es war damals keine schöne Zeit für einen, der vom Nationalismus nie was gehalten hat oder gar einmal eine Zeitlang auf eine sozialdemokratische Zeitung oder auf die „Welt am Montag“ abonniert gewesen war!
Das hat genügt für manche Anpöbelung und Verdächtigung und ich hab manchmal heimlich gezittert, wenn die Wohnungsklingel zu einer ungewöhnlichen Zeit geläutet hat.
Wie mancher ist in diesen Monaten bei Nacht und Nebel abgeholt worden und verschwunden, wer weiss wohin?
Wie man damals überwacht und bespitzelt worden ist, das haben wir zum Beispiel ein Jahr später gemerkt, wie wir angefangen haben, uns auf diesem Grundstück hier einzurichten.

Wir sind nämlich allmählich daraufgekommen, dass es ja hier auch ganz nett wäre, haben uns also zunächst einmal nach einem eigenen Dach über dem Kopf umgesehen und auch bald eine handliche Hütte gefunden, auf eine Zeitungsanzeige hin.
Die Hütte stand nagelneu in einem Garten weit draussen vor der Stadt, wurde preiswert abgegeben samt Tisch, Pumpe und Schubkarre und der Verkäufer hat uns auch ein Fuhrwerk besorgt und uns versprochen, dass er uns beim Zusammenbau hilft.
Also haben wir ihn an einem Sonntag gegen Mittag abgeholt in seiner Vorstadtwohnung und sind in unserem kleinen offenen Opel hier herausgefahren.








Der Opel kämpft sich durch die Auen



Der Mann hat die ganze Zeit recht vergnügt in die Welt geschaut – und wie wir zum Schluss den Fuhrmann mit seinen Pferden eingeholt haben, der schon drei Stunden unterwegs war, ist unser Hütten-Verkäufer neben ihm hergegangen und hat aus vollem Hals gelacht! Das alles ist uns natürlich ein bissel sonderbar vorgekommen – auch schon der Umstand, dass der Mann seine schöne neue Hütte so billig verkauft hat. Des Rätsels Lösung hat er uns dann selber gegeben, wie wir nach vollbrachter Arbeit zusammen Brotzeit gemacht haben: er hat sich deshalb so unbändig des Lebens gefreut, weil man ihn nach einem Jahr sogenannter Schutzhaft aus dem berüchtigten Dachau entlassen hatte!"
Jetzt erzählte Ilse eifrig weiter: "Und das Schönste kommt noch, zwei Tage später kam zu mir ein Mann von der Kriminalpolizei, der sagte, ich solle ja nur die volle Wahrheit sagen, dann wollte er wissen, wieso am Sonntag dieser Herr Jennewein in unserem Auto mitgefahren sei -"
"und zu mir ins Büro ist genau zur gleichen Zeit ein Schutzmann gekommen, der hat wissen wollen, ob mir das Auto Nummer soundsoviel gehört – ja, hab ich gesagt, was hab ich denn angestellt?"
Da hat er erst herumgedruckst – er hat mir dann verraten, dass man einen gewissen




Jennewein am Sonntag in meinem Auto hat mitfahren sehen und dass die Polizei dieser Bekanntschaft auf den Grund gehen müsse."
"Jetzt bist du aber noch lange nicht fertig mit deiner Ländles-Geschichte und es wird kühl, wir ziehen uns jetzt an" unterbrach Ilse das Gespräch.
"Besuch uns bald wieder – hier oder in unserer Wohnung" wandte sie sich an Christof – "wenn dir der totale Krieg noch Zeit dazu lässt" fügte Karl hinzu, "dann können wir weiter erzählen! Den schwarzen Mann an den Plakattafeln kennst du ja – `Psst!" "Verstehe, gern käme ich wieder – aber wer weiss, wann es wieder einmal so schöne Freistunden gibt?"
Vorbei der Frühlingstraum – die Sonne hatte sich tief geneigt und mit weisslichem Dunst verschleiert, richtig kühl fühlte sich Erde und Luft an. Keiner von den dreien hatte noch Lust zum reden – stumm drückten sie einander die Hände, die beiden Radler traten kräftig in die Pedale, um noch vor Dunkelheit nach Hause zu kommen; Christof wandte sich zögernd und mit schweren Gedanken seiner nahen Batteriestellung zu.




















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