"Herr Baurat, Veilchen blühen in Cäsar-Berta – vierhundert Viermot über Gustav-Dora in nördlicher Flugrichtung – heute werden sie es wieder auf uns abgesehen haben – scheusslich!" Auf dem freien Platz vor der Kantine war ein ziemliches Gewimmel, einige Leute schienen da sich nicht gerne von ihrem dürftigen Mittagsmahl trennen zu wollen, aber allmählich verteilten sie sich doch auf die verschiedenen Schutzräume.
Aus dieser Richtung kam auch Fräulein Vogel angetrudelt, ziemlich rundlich trotz der Notzeiten, und mit dem lächelnden Optimismus ihrer neunzehn Jahre. Sie nahm ihren Platz als zweiter Melder ein. Schliesslich kamen gewichtigen Schrittes und ohne Eile acht Männer ruhig und in verlumpter Arbeitskleidung angetrottet und staffierten sich unter einigem Brummen und Geschimpfe im benachbarten Keller mit Stahlhelmen, Gasmasken, Beilen und sonstigem Zubehör als Brandwachen aus. Eigentlich war es ja zum Lachen und gegen alle Vorschriften, dass die "Brandwachen" hier im Keller des Bürogebäudes sassen, statt sich auf die wichtigsten und gefährdetsten Punkte des Werkes zu verteilen – aber hätte man sich nach den papierenen Vorschriften gerichtet, so hätte man die ganze Belegschaft des Werkes gebraucht, alle drei Schichten auf einmal, um alle diese wichtigen Punkte mit
je zwei Mann zu besetzen. So hatte sich Korn zunächst einmal damit begnügt, nur für die allerwichtigsten Stellen ein halbes Dutzend solcher Doppelposten einzuteilen, später reichten ihm auch vier statt sechs – zuverlässige und beruflich an den Umgang mit Feuer gewohnte, infolgedessen etwas rauhbauzige Männer – und im Lauf der Zeit hatte er sich von ihnen überzeugen lassen, dass lebendige Brandwachen im Keller nützlicher seien als tote auf den Dächern. Nun also sassen die Brandwachen im Keller, bereit sich draussen umzusehen, nachdem es gekracht haben würde, aber nicht bereit, einen unnützen Heldentod zu sterben, bevor es brannte. "Ist es gerecht, wenn die einen draussen in den Granatlöchern oder in den russischen Sümpfen liegen und ihr dürft hier zu Haus in euren Betten schlafen?"
Aber natürlich, Korn bemühte sich um Gerechtigkeit in dem Rahmen, den ihm ein unmenschliches System liess – und er merkte auch gerade in diesen letzten Kriegstagen, wie der eine oder andere Vorgesetzte es wagte, in der eisernen Klammer kleine Abweichungen in Richtung der Menschlichkeit zu dulden oder behutsam selber einzuführen.
Da war zum Beispiel der neue Leiter der Stadtwerke, der in jener schrecklichen Bombennacht den völlig erledigten kleinen Generaldirektor Zitzmann abgelöst hatte, so ein wirklicher Mensch. Wenn der seine Luftschutzbesprechungen mit den Abteilungsleitern hielt, so ging manchmal ein Schmunzeln durch die Runde bei den spitzen Bemerkungen, die der junge Chef zum Wehrmachtsbericht oder zu mancher allerhöchsten Anordnung machte; "der landet noch in Dachau, wenn er so weiter macht" tuschelte hie und da einer dem Kollegen hinter vorgehaltener Hand zu. Und die Schwarzseher sollten sogar recht bekommen, allerdings erst im Sommer 1945; da musste der kluge Spötter unter dem patenten USA-System des "Automatischen Arrestes" auf längere Zeit das längst von seinen ursprünglichen Insassen geräumte berüchtigte Konzentrationslager beziehen.
"Herr Baurat, die Viermot sind schon in Berta-Cäsar, sie können jeden Augenblick da sein" – rief Lebegern über die Kellertreppe hinauf.
"Alles in den Schutzraum, bitte, Türen schliessen, es ist höchste Zeit!" Seine Stimme bebte und versuchte vergebens, sich einen Klang von Forschheit zu geben.
Korn winkte den russigen Brandwächtern "hereinkommen" und trat mit einem leisen Lächeln zu seinem aufgeregten Meldegänger in den Schutzraum. Die Brandwachen
liessen sich im benachbarten Keller nieder, die schweren Eisentüren bumsten zu und es begann das hundertmal geübte entnervende Warten im öden Keller. Zunächst gab der Rundfunk und das Telefon noch einige Unterhaltung – die Bombengeschwader schienen diesmal nicht stur in Hundertschaften auf ihr Ziel losfliegen zu wollen, sondern sie machten Umwege und spielten Katz und Maus. Dann war es eine Zeitlang ganz still, schon dachte man an Entwarnung – aber plötzlich war da wieder der unsinnige Satz: "Maiglöckchen blühen in Dora-Friedrich" – "O wie schön, Maiglöckchen" seufzte Fräulein Vogel, die trotz des Ernstes der Lage ein bisschen Frühlingsträumen nachgehangen hatte. "Maiglöckchen, natürlich, das könnte ihnen passen, jetzt draussen in der schönen Frühlingssonne Maiglöckchen pflücken" knurrte Lebegern und blickte missbilligend auf des Vögelchens dicke Schenkel, die auf der schmalen Bank kaum Platz fanden. "Überhaupt haben wir ja erst März – sie Märzveilchen, sie! Aber Maiglöckchen oder Märzveilchen, es ist ja alles Sch...... alles geht an uns hinaus ..." mitten im Satz hielt er inne: "Ich habe ja nichts gesagt..." er sah sich im Kreise seiner Kellergenossen um und griff unwillkürlich an sein Parteiabzeichen. Fräulein Vogel rümpfte die Nase, versuchte ihr kurzes Röckchen zwei Zentimeter weiter nach vorne über ihre Knie zu ziehen und schwieg. Alle anderen auch. Nur Fräulein Lilo Unsinn, die Jüngste im Kreise, Laborantin und wegen ihrer kosmetischen Bemühungen im ganzen Werke "die Malerin" genannt, kicherte laut und flüsterte der Vögelin ins Ohr:
"Ist ja selber ein Märzveilchen, der tapfere Lebegern! Im März 1933 in die NSDAP eingetreten, aus lauter Schiss – hi, hi, hi!"
Plötzlich heulte draussen die Sirene kurz auf, mit einem bösen bellenden Ton: "akute Luftgefahr" bedeutete dieses neueste Warnzeichen, mit dem man die Heimatfront beglückt hatte. Mit einem dumpfen Knall fiel die äussere Tür, vor der gelangweilte Brandwächter frische Luft geschöpft hatten, zu – gleichzeitig setzte eine rasende Schiesserei ein, ohrenbetäubendes Heulen ertönte – Lebegern duckte sich zitternd und verschwand unter dem Tisch, die anderen erbleichten im Gefühl der Ohnmacht – ein schmetternder Krach erschütterte das Haus, Staub rieselte – dann Stille. Und gleich darauf das langgezogene Entwarnungssignal, in seiner Eintönigkeit –
wenigstens Karl empfand es so – noch schauerlicher als das wilde Alarmgeheul.
Wie viele Tote mochte heute wieder dieser elegische Ewigkeitston zu Grabe singen?
Heute wenigstens hier im engen Bereich keinen, so schien es, als alle aus dem kühlen Keller in die warme Frühlingssonne hinausströmten.
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