1 - Wenn der Kuckuck schreit . .


"Kuckuck – Kuckuck" erscholl es mitten in die Takte munterer Marschmusik hinein – "Achtung, Achtung, zweihundert Viermot von Süden im Anflug auf Bayern" und dann wieder "Kuckuck, Kuckuck" – und statt der Marschmusik zur Abwechslung ein Wiener Walzer.
"Wenn der Kuckuck schreit, ist die schönste Zeit" seufzte Karl Korn und legte das Buch beiseite, mit dem er – nicht gerade freiwillig – den schönen Samstagnachmittag auf dem Sofa zu verbringen gedachte; es war ein in kleine Hefte eingeteiltes Handbuch zum Studium der englischen Sprache. Seine mässigen Schulkenntnisse im Englischen zu erweitern, das hatte Karl schon seit dem Ende des letzten Jahres als sehr wichtig in Bezug auf seine zukünftigen Möglichkeiten erkannt.
Missmutig sah er auf das Rundfunkgerät, das in der Ecke auf dem Fussboden stand und sich auf dem blanken Linoleum des grossen und etwas kahl wirkenden Wohnzimmers spiegelte. Trotz Buffet, Klavier, behaglichem Sofa und zwei Sesseln, flankiert von zwei Bücherschränken, einem grossen runden Tisch und wuchtigen, breiten Eichenstühlen wirkte de Raum etwas kahl. Vier Fenster nach zwei Seiten, fast quadratisch mit der um die Jahrhundertwende modern gewesenen engen Sprossenteilung liessen genug Licht herein; die Heizkörper hinter den blanken Messingverkleidungen spendeten, von den grossen Kesseln des Werkes gespeist, Tag und Nacht wohlige Wärme – alles war blitzblank, wohnlich und dem Stand eines stellvertretenden Werkleiters in einem grossen Gaswerk durchaus angemessen – ja, wenn man die ganze Wohnung mit ihren vielen Quadratmetern und ihren üppigen Nebenräumen betrachtete, dann ging sie fast schon über den Standard eines solchen Mittelbeamten hinaus.


Eingang Beamtenwohnhaus

Und doch, das Zimmer wirkte nüchtern, etwas fehlte: die Behaglichkeit des wirklich bewohnten Raumes. Alles, was persönlichen Wert besass oder vorspiegelte, war im Keller oder sonstwo "sichergestellt", wie der recht trügerische Fachausdruck lautete.
Fast leer standen die Bücherschränke, nur ein paar belanglose Unterhaltungsromane räkelten sich neben nationalsozialistischer Pflichtliteratur, dazu standen auch noch einige Reihen Klassiker in dem einen Schrank, die man im Falle des Totalverlustes sich wieder beschaffen zu können annahm (falls man es dann noch für nötig erachten würde). Auch der Wandschmuck war spärlich.
Originale gehörten in solchen Zeiten nicht an die Wände, und zu einem Führerbild hatte es der Parteigenosse Korn schändlicherweise noch nicht gebracht – auch seine Wohnungsfahne, die aufgerollt in einer Ecke stand, wies die geringstmöglichen Dimensionen auf. Karl schaltete das Radio aus und wollte sich wieder seinem Englisch widmen. Da steckte Ilse ihren Kopf durch die Küchentür herein: "Was ist los, was hat der Kuckuck gerufen?"
"Zweihundert Viermot von Süden."



"Und da stellst du den Radio ab! Lass doch weiter hören!"
"Werden schon bald genug hören – auch ohne diese hirnverbrannten Walzer!"
"Walzer ist doch was Schönes – lass doch bitte hören, bitte!" Karl schaltete wieder ein. Nach ein paar Minuten Tanzmusik rief wieder der Kuckuck.
".... von Süden weitere zweihundert ..."
Da schrillte das Telefon. Karl hob ab: "Luftgefahr zwanzig".
"Wieder gerade, wenn es Zeit zum Mittagessen wäre" brummte er, holte im Flur Helm und Gasmaske, verschwand in Richtung auf das Bürogebäude, nicht ohne vorher dem Radio eine Wolldecke überzubreiten – diese Massnahme, nebst der Aufstellung des Gerätes auf dem Fussboden, war zum Schutz des unersetzlichen Nachrichtenbringers von einer sorglichen Regierung angeordnet worden. Nützt es nichts, so schadet es auch nichts, sagte sich Karl und erwies sich insoweit als gehorsamer Staatsbürger.

Ilse und Karl (1924)


Seufzend sah ihm Ilse durchs Küchenfenster nach und fühlte sich recht einsam So ganz allein in der grossen spiegelblanken Wohnung! Die Kinder weit weg in Kinder-




Landverschickung und im Arbeitsdienst – ihre muntere Gesellschaft fehlte ihr sehr; auch der Verlust der Mutter ging ihr noch nahe, obgleich diese nie viel Verständnis für die Probleme der jungen Generation gehabt hatte.

Und der Mann, dem Ilse seit mehr als zwanzig Jahren so eng verbunden war – immer im Augenblick der Gefahr wurde er von ihrer Seite weggerufen durch dieses herzlose Reglement des Luftschutzes, das ihn als Werk-Luftschutzleiter in einen anderen sogenannten Schutzraum zwang, in dem es in Wirklichkeit ebenso wenig Schutz gab wie in dem Wohnhaus.

Augsburg in Trümmern


Wen würde es zuerst treffen? – Aber man durfte nicht zu viel grübeln – haben wir doch bis jetzt immer Glück gehabt, obwohl uns alle Welt für die ersten Todeskandidaten angesehen hat, so fünfzig Meter von den riesigen Gasbehältern entfernt – sogar in der Nacht des "grossen Terrors", wie die Leute sagen, sind wir mit ein paar zerschlagenen Fensterscheiben und Blumentöpfen davongekommen, damals, als die halbe Stadt auf einen Schlag in Schutt und Asche versunken ist.
Ilse schaute hinaus in den Garten, wo die Sonne des Vorfrühlings grüne Spitzen aus den Beerensträuchern trieb und seufzte noch einmal ein wenig "wie lange soll denn




das noch so weiter gehen?" Dann drehte sie die Flamme unter dem Topf aus und überlegte, ob sie die Graupen zum Warmhalten ins Bett oder auf die Heizung stellen sollte. Beides hatte sein Für und Wider – und während sie das ernsthaft abwog, da heulte plötzlich die Sirene im Werk auf – Ilse liess den Topf, wo er war, griff nach ihrem Köfferchen, nahm ihren Wintermantel unter den Arm und eilte in den Keller.
Aus dem ersten Stock kam Herr Oberbaurat Staab nebst Gattin herab: er die Würde selbst – diese war ihm in seinen jungen Jahren gleich von zwei Seiten eingeprägt worden, erst einmal von seiner Burschenschaft und später von seinen Kameraden, als er es im ersten Weltkrieg zum Offizier gebracht hatte. Seine Gattin, lebhaft und geschäftig, aber als Partnerin eines Werkleiters und als Frauenschaftsleiterin in der Vorstadt ebenfalls ihres Ranges sehr bewusst.

Moritzkirche Rathaus


"Wieder einmal gehts los – wann wird denn endlich einmal der grosse Gegenschlag kommen?" begrüsste sie Ilse und ihrer Stimme war anzumerken, dass auch bei ihr




allmählich der Glaube an die unbegrenzten Fähigkeiten des heissverehrten Führers ins Wanken kam. Ausserdem hatte ja auch sie ihre persönlichen Sorgen: das Töchterlein war ja wohl mit der Schule draussen auf dem Lande gut aufgehoben, aber was stand wohl dem fünfzehnjährigen Buben noch alles bevor, den man gerade in diesen Tagen zum Volkssturm eingezogen hatte?
Doch – Haltung! Keine Zweifel sich anmerken lassen vor solchen Skeptikern, wie es Karl und Ilse waren, und vor allem vor den kleinen Leuten wie dem alten Nachtwächter-Ehepaar, das in zwei Zimmern auf dem Dachboden wohnte und die Ehre hatte, mit Herrn und Frau Oberbaurat den Schutzraum zu teilen (Herr Oberbaurat hatte nämlich auch im Wohnhaus zu bleiben, damit noch jemand da wäre, das Werk zu leiten und zu schützen, falls eine Bombe den Werkluftschutzleiter mit seinem Stab erwischen sollte.)

Der Schutzraum, abgestützt mit dicken Rundhölzern und Balken, war recht bequem eingerichtet, mit Sitz- und Liegegelegenheiten aller Art – allerdings hatte er schon einmal einen höheren Luftschutz-Sachverständigen zu erheblichem Kopfschütteln veranlasst durch seine Ausstattung mit brennbarem Material.
Anfangs hatten sich ja die Hausbewohner an die Bestimmung gehalten, dass jeder in seinem "Schutzraum-Gepäck" nur das Notwendigste und Wichtigste bei jedem Alarm mit hinunterzunehmen hatte; mit der Häufigkeit der Alarme wurde das aber immer unbequemer, besonders da die Frauen unter ihren irdischen Schätzen immer mehr Stücke entdeckten, die unersetzbar und unbedingt schutzwürdig waren – so liessen sie diese Stücke allmählich im Keller und das Ende war, dass der Schutzraum dem Lager eines gut assortierten Textilgeschäftes glich. Ganz warm und behaglich eigentlich und ein guter Rahmen für hausfrauliche Gespräche – aber doch auch recht feuergefährlich.

    

Übersicht Gaswerksanlage, Mitte vorne Wohnhaus, links Bürogebäude. 1932


Etwas anders sah es beim Luftschutzleiter im nahen Bürogebäude aus. Karl blieb beim Alarm noch etwas oben vor der Tür stehen, die vom Freien in den Keller führte und sah zu, wie sein Stab einpassierte.
Der Torwart Zeller schloss das Werkstor, der Koksverkäufer Meier den Geldschrank, und beide begaben sich auf der inneren Treppe in den Keller; der dürre Bürogehilfe Lebegern kam ausser Atem aus seiner etwas entfernten Werkswohnung angesaust und nahm eiligst vor dem Radio seinen Platz als Melder ein, rief auch alsbald zu Karl hinauf:


Entwurfszeichnung für das Gaswerk ca. 1912




"Herr Baurat, Veilchen blühen in Cäsar-Berta – vierhundert Viermot über Gustav-Dora in nördlicher Flugrichtung – heute werden sie es wieder auf uns abgesehen haben – scheusslich!" Auf dem freien Platz vor der Kantine war ein ziemliches Gewimmel, einige Leute schienen da sich nicht gerne von ihrem dürftigen Mittagsmahl trennen zu wollen, aber allmählich verteilten sie sich doch auf die verschiedenen Schutzräume.
Aus dieser Richtung kam auch Fräulein Vogel angetrudelt, ziemlich rundlich trotz der Notzeiten, und mit dem lächelnden Optimismus ihrer neunzehn Jahre. Sie nahm ihren Platz als zweiter Melder ein. Schliesslich kamen gewichtigen Schrittes und ohne Eile acht Männer ruhig und in verlumpter Arbeitskleidung angetrottet und staffierten sich unter einigem Brummen und Geschimpfe im benachbarten Keller mit Stahlhelmen, Gasmasken, Beilen und sonstigem Zubehör als Brandwachen aus.
Eigentlich war es ja zum Lachen und gegen alle Vorschriften, dass die "Brandwachen" hier im Keller des Bürogebäudes sassen, statt sich auf die wichtigsten und gefährdetsten Punkte des Werkes zu verteilen – aber hätte man sich nach den papierenen Vorschriften gerichtet, so hätte man die ganze Belegschaft des Werkes gebraucht, alle drei Schichten auf einmal, um alle diese wichtigen Punkte mit




je zwei Mann zu besetzen. So hatte sich Korn zunächst einmal damit begnügt, nur für die allerwichtigsten Stellen ein halbes Dutzend solcher Doppelposten einzuteilen, später reichten ihm auch vier statt sechs – zuverlässige und beruflich an den Umgang mit Feuer gewohnte, infolgedessen etwas rauhbauzige Männer – und im Lauf der Zeit hatte er sich von ihnen überzeugen lassen, dass lebendige Brandwachen im Keller nützlicher seien als tote auf den Dächern. Nun also sassen die Brandwachen im Keller, bereit sich draussen umzusehen, nachdem es gekracht haben würde, aber nicht bereit, einen unnützen Heldentod zu sterben, bevor es brannte.
"Ist es gerecht, wenn die einen draussen in den Granatlöchern oder in den russischen Sümpfen liegen und ihr dürft hier zu Haus in euren Betten schlafen?"
Aber natürlich, Korn bemühte sich um Gerechtigkeit in dem Rahmen, den ihm ein unmenschliches System liess – und er merkte auch gerade in diesen letzten Kriegstagen, wie der eine oder andere Vorgesetzte es wagte, in der eisernen Klammer kleine Abweichungen in Richtung der Menschlichkeit zu dulden oder behutsam selber einzuführen.
Da war zum Beispiel der neue Leiter der Stadtwerke, der in jener schrecklichen Bombennacht den völlig erledigten kleinen Generaldirektor Zitzmann abgelöst hatte, so ein wirklicher Mensch. Wenn der seine Luftschutzbesprechungen mit den Abteilungsleitern hielt, so ging manchmal ein Schmunzeln durch die Runde bei den spitzen Bemerkungen, die der junge Chef zum Wehrmachtsbericht oder zu mancher allerhöchsten Anordnung machte; "der landet noch in Dachau, wenn er so weiter macht" tuschelte hie und da einer dem Kollegen hinter vorgehaltener Hand zu. Und die Schwarzseher sollten sogar recht bekommen, allerdings erst im Sommer 1945; da musste der kluge Spötter unter dem patenten USA-System des "Automatischen Arrestes" auf längere Zeit das längst von seinen ursprünglichen Insassen geräumte berüchtigte Konzentrationslager beziehen.
"Herr Baurat, die Viermot sind schon in Berta-Cäsar, sie können jeden Augenblick da sein" – rief Lebegern über die Kellertreppe hinauf.
"Alles in den Schutzraum, bitte, Türen schliessen, es ist höchste Zeit!" Seine Stimme bebte und versuchte vergebens, sich einen Klang von Forschheit zu geben. Korn winkte den russigen Brandwächtern "hereinkommen" und trat mit einem leisen Lächeln zu seinem aufgeregten Meldegänger in den Schutzraum. Die Brandwachen




liessen sich im benachbarten Keller nieder, die schweren Eisentüren bumsten zu und es begann das hundertmal geübte entnervende Warten im öden Keller. Zunächst gab der Rundfunk und das Telefon noch einige Unterhaltung – die Bombengeschwader schienen diesmal nicht stur in Hundertschaften auf ihr Ziel losfliegen zu wollen, sondern sie machten Umwege und spielten Katz und Maus. Dann war es eine Zeitlang ganz still, schon dachte man an Entwarnung – aber plötzlich war da wieder der unsinnige Satz: "Maiglöckchen blühen in Dora-Friedrich" – "O wie schön, Maiglöckchen" seufzte Fräulein Vogel, die trotz des Ernstes der Lage ein bisschen Frühlingsträumen nachgehangen hatte. "Maiglöckchen, natürlich, das könnte ihnen passen, jetzt draussen in der schönen Frühlingssonne Maiglöckchen pflücken" knurrte Lebegern und blickte missbilligend auf des Vögelchens dicke Schenkel, die auf der schmalen Bank kaum Platz fanden. "Überhaupt haben wir ja erst März – sie Märzveilchen, sie! Aber Maiglöckchen oder Märzveilchen, es ist ja alles Sch...... alles geht an uns hinaus ..." mitten im Satz hielt er inne: "Ich habe ja nichts gesagt..." er sah sich im Kreise seiner Kellergenossen um und griff unwillkürlich an sein Parteiabzeichen. Fräulein Vogel rümpfte die Nase, versuchte ihr kurzes Röckchen zwei Zentimeter weiter nach vorne über ihre Knie zu ziehen und schwieg. Alle anderen auch.
Nur Fräulein Lilo Unsinn, die Jüngste im Kreise, Laborantin und wegen ihrer kosmetischen Bemühungen im ganzen Werke "die Malerin" genannt, kicherte laut und flüsterte der Vögelin ins Ohr:
"Ist ja selber ein Märzveilchen, der tapfere Lebegern! Im März 1933 in die NSDAP eingetreten, aus lauter Schiss – hi, hi, hi!"
Plötzlich heulte draussen die Sirene kurz auf, mit einem bösen bellenden Ton: "akute Luftgefahr" bedeutete dieses neueste Warnzeichen, mit dem man die Heimatfront beglückt hatte. Mit einem dumpfen Knall fiel die äussere Tür, vor der gelangweilte Brandwächter frische Luft geschöpft hatten, zu – gleichzeitig setzte eine rasende Schiesserei ein, ohrenbetäubendes Heulen ertönte – Lebegern duckte sich zitternd und verschwand unter dem Tisch, die anderen erbleichten im Gefühl der Ohnmacht – ein schmetternder Krach erschütterte das Haus, Staub rieselte – dann Stille. Und gleich darauf das langgezogene Entwarnungssignal, in seiner Eintönigkeit –




wenigstens Karl empfand es so – noch schauerlicher als das wilde Alarmgeheul.
Wie viele Tote mochte heute wieder dieser elegische Ewigkeitston zu Grabe singen?
Heute wenigstens hier im engen Bereich keinen, so schien es, als alle aus dem kühlen Keller in die warme Frühlingssonne hinausströmten.

Die grosse Mauer mit Schulkindern


Nur ein grosses Loch klaffte in der strassenseitigen Mauer des Werkes, einige Bürofenster waren trotz der geschlossenen Läden in Scherben gegangen, Kies und Steinbrocken hatten Pflaster und Rasenflächen überstreut. Aus dem blauen, jetzt wieder makellos reinen Himmel flatterten in trägen Drehbewegungen zwei längliche Blechstücke aus Leichtmetall herab und blieben auf dem Pflaster liegen. "Brandbombenbehälter wahrscheinlich" stellte sachverständig Oberwerkmeister Piffke fest. "Seht mal überall nach, ob es nirgends brennt!" Die Brandwachen verstreuten sich; nach ein paar Minuten kam Schlosser Herbstlechner zurück, markierte vor dem Luftschutzleiter militärische Haltung und meldete grinsend "Befehl ausgeführt, zwei Stabbrandbomben im Kohlenlager unschädlich gemacht!"
"Gut so, werd’s für die nächste Ordensverteilung vormerken!" lachte Korn, gab diese Erfolgsmeldung an die Leitung der Stadtwerke weiter, zusammen mit dem Bericht über das bedauerliche Loch in der Mauer. In diesem Betreff war nun nichts weiter mehr zu machen als dem Oberwerkmeister den Auftrag zu geben, dass er unverzüglich mit Hilfe von Brettern und Stacheldraht das Werk vor dem Eindringen feindlicher Agenten und vor ähnlichen Gefahren sichern möge.




Ostwärts im Stadtgebiet stieg langsam eine grosse schwarze Rauchwolke empor – was da wohl wieder brannte?

Der verkleidete Wasserbehälter


Korn ging über den Hof und erklomm einige enge Treppen in dem Wasserturm , der massig in der Mitte über alle Werkgebäude emporragte und lugte durch eine der kleinen Luken unter dem Wasserbehälter hinüber auf die Stadt; der Brand schien nicht so schlimm zu sein, eben verdünnte sich die Rauchwolke und ihre Schwärze ging in ein schmutziges Gelb über. Drunten am Bürogebäude sah Karl den Werkleiter stehen, umgeben von drei, vier Männern, und mit wichtiger Miene das Loch in der Mauer betrachten. Fünfzehn Jahre stand Staab nun schon jeden Morgen von halb acht bis halb neun im Werk und beguckte sich diesen oder jenen Kohlehaufen und wälzte einfachste mechanische Probleme oder wirtschaftliche Fragen. Eigentlich war er ja Chemiker, aber er beschäftigte sich lieber mit solchen Dingen, die er nicht studiert hatte, und kam er zu einem Entschluss, so lautete der meist: "das probieren wir halt einmal!"
Dass einmal bei einem solchen Entschluss sogar ein Ofenbau-Patent und ein paar tausend Mark Lizenzgebühren für Herrn Staab herausgekommen war, das wunderte




Karl heute noch – und dass er selber für seine technische Mitarbeit ein Zehntel dieser Summe abbekommen hatte, das liess Karl als einen Beweis für Herrn Staabs kollegialen Sinn und für sein savoir vivre gelten.
Was aber nicht hinderte, dass der Stellvertreter bei seinem morgendlichen Gang durchs Werk den Weg meist mit Bedacht so wählte, dass er nicht dem Chef in den Weg lief und mit ihm halbe Stunden in irgend einer zugigen Ecke stehen musste und sich womöglich wieder einmal einen Hexenschuss holte!
Diese Gefahr bestand ja wohl heute nicht, bei dem schönen warmen Wetter, und überhaupt. Wie lange würde der Herr Oberbaurat wohl noch Gelegenheit haben, tiefgründige Betrachtungen über Gaserzeugungs-Methoden und Koksbehandlung anzustellen und mechanische Probleme durch "probieren wir mal" zu lösen? Ob er wohl auch schon in der abendlichen Stille seines wohltemperierten Herrenzimmers am Radio leise und ganz vorsichtig probiert und aus London oder Luxemburg jene des öfteren wiederholten Versicherungen gehört hatte, nach denen Nationalsozialismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde und dass in den befreiten Gebieten alle Mitglieder der Partei und ihrer Gliederungen aus jedem öffentlichen Dienst entfernt werden würden?
Sicher hatte er diese Ankündigungen schon gehört – denn so streng Herr Staab auf äussere Manifestation von rückhaltloser Gesinnungstreue und Führerverehrung hielt, so verzagt war er in seinem Inneren. Schon seit Jahren war das (zum mindesten für Korn als seinem nächsten Mitarbeiter) deutlich zu erkennen. Nicht dann natürlich, wenn Korn als Untergebener zu seinem Chef gerufen wurde – da sass man einander gegenüber und besprach sachlich technische Probleme – wohl aber, wenn Staab, von Sorgen oder Langeweile getrieben, sein Direktionszimmer verliess und in Korns Arbeitszimmer kam.
Da stand dann der schöne Fritz (so wurde er in seinem engsten privaten Kreis genannt) an den Fensterrahmen gelehnt, sah auf den mit sauberen gärtnerischen Anlagen gezierten Fabrikhof hinab und packte seufzend seine Sorgen aus, die sich meist mit Dingen der grossen Politik befassten:
"Haben sie das schon gehört?"
"Haben sie schon gelesen, was heute in der Zeitung steht?"





"Das mit der Arbeitsfront wird nun wirklich recht übertrieben, wie soll das enden?"
"Das kann doch nicht gut hinausgehen mit diesen Welteroberungs-Plänen ..."
"Das ist ja eine Katastrophe, dort bei Stalingrad!"
Dieser Art waren die wunden Punkte, in die Herr Staab seinen Finger legte und man muss gestehen, es waren wirklich wunde Punkte und es wäre sicher gut gewesen, wenn er und recht viele andere ebenso kluge Menschen ihre Bedenken an den richtigen Stellen hätten zur Geltung bringen können. Aber das ging nun leider nicht, die Weisheiten blieben geflüstert in kleinen Büros und Stuben; draussen, den Vorgesetzten und Parteibonzen gegenüber, bis herunter zu dem Oberwerkmeister Piffke und dem Lagerverwalter und Vertrauensrat Grau und dem Hilfsmeister und Blockwart Biersack – und erst recht für gewisse des Kommunismus verdächtige Schlosser und Ofenarbeiter musste ein Herr Oberbaurat der untadelige und wenn nötig sogar harte Gefolgsmann des Führers bleiben. Und für einen Baurat galt natürlich das gleiche
Karl wollte eben hinabsteigen und sich in Richtung Mittagessen begeben, da überfiel ihn wieder das Höllengeheul der "akuten Luftgefahr" – höllischer denn je, denn die Sirene stand gerade ein paar Meter vor ihm auf dem Dach des Apparatehauses.



Apparatehaus mit Luftschutzsirene


Und schon tauchten hinter diesem Dach zwei Jäger auf, in Turmhöhe fegten sie mit Geheul eine Kurve und liessen ihre Maschinengewehre spielen. Dachziegel und splitternde Fenster schepperten, Karl ging in Deckung und sah durch das




gegenüberliegende Fenster gerade noch, wie die Männer an dem Bombenloch auseinander sausten und wie Herr Staab gemessenen Schrittes, wenn auch in etwas beschleunigtem Tempo, sich in Richtung aufs Bürogebäude bewegte – und damit war der gefährliche Spuk auch schon wieder vorbei.
"Das muss man ihm lassen, die Ruhe hat er, der Herr Oberbaurat" stellte Maschinist Kalinke fest, der auch im Wasserturm in Deckung gegangen war – "sonst regt er sich über jeden Dreck auf, aber wenn’s kracht, dann ist er die Ruhe selber."
"Zweimal wieder Glück gehabt heute" begrüsste Karl Ilse, die ihn schon vor der Haustür erwartete.
"Ihr Armen, bei euch hat’s ja ganz dicht eingeschlagen, denk dir nur, wie ich erschrocken bin, als die zwei Tiefflieger auf einmal dahergekommen sind – ich war doch schon draussen im Garten!"

Messerschmitt Jäger Me210


"Du armes Kind ..." Ilse lächelte ihn erlöst an – "aber, der Tag ist noch nicht vorbei!"
Karls Hände zitterten, die Nervenanspannung in dieser Woche mit den vielen Alarmen, das viele aus dem Bett gejagt werden, die doppelte Lebensgefahr in der letzten Stunde wirkten sich aus. Ilse tröstete ihn: "Ruh dich aus, mein Liebster, du hast es nötig – und gleich gibt’s was zu essen!"
Schnell war sie in der Küche, steckte das Gas an und kam in Kürze wieder mit dem bescheidenen Mahl – Karl richtete sich auf und beide liessen sich die Graupen und




das Kraut schmecken, zu dem Ilse, wer weiss wie, ein paar kleine gebackene Klösschen gezaubert und ein Schüsselchen Löwenzahnsalat angerichtet hatte. "Und zum Nachtisch kriegst du was ganz feines! Einen Apfel hab ich geschenkt bekommen, den teilen wir uns!"
Aber bevor es zur Teilung des Apfel kam, schrillte schon wieder das Telefon: man rief Karl auf den Platz hinter dem grossen Kohlensilo.
Dort hatte man eben das einzige Opfer des heutigen Angriffes gefunden: zwischen altem Unkraut und keimendem jungen Gras lag da ein junger Bursche, einer von den zwanzig Ukrainern, die im letzten Sommer als "freiwillige Fremdarbeiter" ins Werk gebracht worden waren.
Barfuss und zerlumpt waren sie angekommen, aber mit der unerschöpflichen Heiterkeit der Jugend hatten sie sich seitdem durchs Leben geschlagen, stets zum Lachen aufgelegt, sich balgend und puffend, von jeder kleinen Verbesserung ihrer Lage mit kindlicher Freude erfüllt – und nun standen sie bedrückt um ihren sechzehnjährigen lustigen Pjotr herum, der mit erstaunten Augen in den blauen Himmel schaute und keinen Mucks mehr tat. Ein dünner Faden Blut rann aus seiner groben Jacke in den Kies, eine Lerche stieg trillernd aus dem Feld empor – ob Pjotr’s Seele jetzt wohl zu Hause in den weiten Weizenfeldern der Ukraine weilte?

"Sentimentalitäten eines Pazifisten!" sagte Karl zu sich selber, als er sich auf solchen Gedankengängen ertappte und tat, was seine Arbeit war: Polizei und Arzt anrufen, Werkleitung verständigen – das armselige Schaustück, wie man den mageren Leib des Toten einpackte und wegschaffte, das schenkte er sich. Rasch eilte er zu Ilse zurück.
"Ein junger Ukrainer tot – Schüsse vom Tiefflieger!"
"Der Arme! Das nennt man nun westliche Zivilisation – arme junge Burschen totschiessen, die Kinder von den eigenen Bundesgenossen! Oh, man möchte selber sterben – wenn ich mir vorstelle, eines von unseren Mädchen liegt irgendwo so draussen – kann ihnen ja auch so gehen, hat es nicht auch schon Angriffe gegeben auf die Fabrik in der Oberpfalz, wo die Hedwig arbeitet – wann wird denn das einmal enden?"






Lichtblick im neuen Gaskessel



(Ausführlichere Geschichte des Gaswerks siehe Anhang)









dreifels ag