26 - Der neue Broterwerb



Karl begegnete auf dem Weg zum Arbeitsamt, das ihm wegen seiner künftigen Beschäftigungsmöglichkeit einen riesigen Fragebogen geschickt hatte, dem Nachbar Lechner. Karl sagte zu ihm, dass er, wenn er schon unbedingt Hilfsarbeiter bleiben solle, das eigentlich auch in Erling machen könne. Da meinte Lechner :
„Gehen sie doch zum Jaques Halbeck, der hat eine Holzwaren-Werkstatt eingerichtet, ganz in unserer Nähe , der kann sie sicher brauchen!“
„Jaques Halbeck? Wer ist denn das, von dem hab ich noch nie gehört!“
„Ist ein Ingenieur, Abteilungsleiter im Eisenwerk draussen gewesen und entlassen worden, weil er bei der Partei war und hat sich mit ein paar Leuten eine eigene Werkstatt eingerichtet.“
„Wie ist denn das möglich, einem PG wird so was doch auf keinen Fall erlaubt – nicht einmal als Vertreter darf man Klinken putzen, weil man da mit anderen Menschen in Berührung käme – ein eigenes Geschäft schon gar nicht aufmachen!“ "Der Halbeck hat nur ein Bein und als Schwerbeschädigter hat er es fertig gebracht, dass er sich einen Betrieb einrichten konnte.
Gehen sie doch zu ihm hin mit einem schönen Gruss von mir!“
Karl radelte sofort durch die schneebedeckte Landschaft nach Erling. An der Landstrasse fand er zwischen Siedlungshäuschen und einem halbverfallenen kleinen Bauernhof die Firma „Erlinger Holzwaren“. Aber so was von einer Werkstatt hatte er noch nie gesehen!
Hinter einem hohen Drahtgitter tobten zwei Hunde, als er sich näherte. Aus der Tür einer kleinen Holzhütte schaute ein dürrer Mann in einem verstaubten Arbeitskittel. Er pfiff die Hunde zurück, kam flink und nur ganz wenig hinkend über den Hof und liess




Karl ein.
Er fragte ihn nach seinem Begehr und schien sehr erfreut, eine neue Arbeitskraft gewinnen zu können. Der umzäunte Hof war so klein, dass er gerade als Hundezwinger recht gewesen wäre. Er enthielt aber ausser den Hunden und deren Hütte noch einige Bretterstapel, zwei kleine Holzhütten, in denen auf Regalen und in den Ecken ein kaum übersehbares Sammelsurium von Gegenständen aufgestapelt war, von der Bettlade bis zur Gasmaske, vom Kinderwagenrad bis zum Elektromotor, vom Farbtopf bis zum Cafeservice, von der Gardinenstange bis zur Petroleumkanne – das war Herrn Halbecks Fabriklager.
Die Werkstatt hatte die Grösse eines mittleren Wohnzimmers und war reichlich mit Maschinen ausgestattet, die Herr Halbeck alle selbst gebaut hatte, aus Holz, Blech und wer weiss was: eine Kreissäge, eine Bandsäge, zwei Bohrmaschinen und eine Drechselbank zeugten von der technischen Begabung ihres Erbauers. Ein schmächtiger junger Mann und ein sehr junges Mädchen machten sich eifrig an den Maschinen zu schaffen – was sie erzeugten, war nicht ganz klar zu erkennen, aber es schien sich um Fahrzeuge irgendwelcher Art zu handeln, man sah da hölzerne Scheibenräder, gehobelte Leisten und eiserne Achsen, alles mit dickem Staub bedeckt.
Herr Halbeck erläuterte Karl seinen neuesten Verkaufsschlager, einen sogenannten Kofferwagen – ein zusammenlegbares Wägelchen auf winzigen Rädern, das man in die Eisenbahn mitnehmen und mit dem man sein Gepäck über Land- und Stadtstrassen befördern konnte, sehr nützlich für Hamsterfahrten bei den wenigen Omnibus- und Strassenbahn-Verbindungen.
Er zeigte ihm auch seine winzige, in die Werkstatt eingebaute Schlafkoje und stellte ihm Frau Hackel vor, seine Herzensfreundin, die kleine, etwas krummbeinige Frau eines Werkmeisters. Sie brachte ihm täglich dreimal das Essen.
Karl verpflichtete sich, am ersten März die Arbeit anzutreten – er hatte ja der Hedi noch die Skitour versprochen.
Halbeck gab ihm einen Stundenlohn von 90 Pfennig einem angelernten Arbeiter entsprechend. Karl hatte sich ausbedungen, dass er die Nachmittage bei gutem Wetter für die Arbeit auf seinem Gelände frei halten wolle.




Recht vergnügt kam Karl nach Hause, aber Moni war auch ein Glückskind: am Montag wollte der Vater mit Hedwig ins Gebirge fahren und am Samstag vorher verkündigte die Schulleitung: wegen Kohlenmangel muss die Schule geschlossen werden, vorläufig für eine Woche!
Jubelnd kam Moni nach Hause gesprungen und fiel dem Vater um den Hals:
„Ich komme mit ins Gebirge!“
Schnell wurde noch die Ausrüstung nachgesehen, der Proviantvorrat ergänzt und am Sonntagfrüh gings los ins Allgäu.
Die Bahnfahrt war lang und wenig bequem in den überfüllten Wagen, durch deren Ritzen und notdürftig mit Pappe abgedichtete Fenster der Schneestaub hereinwirbelte, aber um so schöner war es dann in den Bergen. Sie kamen auf einer grossen, hochgelegenen Almhütte unter, die von einem bärtigen Senner mit seiner Familie und von einer türkischen Flüchtlingsfamilie bewohnt war.
Zu Essen hatten sie genug mitgebracht, Milch und Käse gabs auf der Hütte. Nach einer Woche kehrten sie zufrieden zurück.
Pünktlich am ersten März traten Vater und Tochter ihre neuen Arbeitsstellen an und liessen sich in sehr verschiedenem äusseren Milieu anlernen. Hedwig kam in eine grosse, saubere Werkstatt mit neuen Webstühlen, ohne Schmutz und viel Lärm.
Karl musste in den ersten Wochen zunächst einmal lernen, sich über nichts zu wundern.





Das Fabrikationsprogramm war gar nicht so klein: da gab es ausser dem bereits erwähnten Kofferwägelchen Leiterwagen, Roller, hölzerne Spielzeugeisenbahnen, Dreiräder, gedrechselte Teller und die aus unerfindlichen Gründen „Sportwagen“ genannten Wagen für Kleinkinder.
Das alles stellte Herr Halbeck in grösseren Serien her, nur war es fast die Regel, dass immer vor der Fertigstellung einer Serie irgend ein Konstruktionsteil ausgegangen war.
Halbeck hatte dann gewöhnlich die Serie doch in Angriff genommen, weil gerade eine dafür geeignete Partie Holz da war und er glaubte, die fehlenden Teile beschaffen zu können, bis sie benötigt wurden. Wenn ein Posten guter Bretter zu Ende ging, musste neues Holz beschafft werden und Halbeck nahm selbst alte Bettgestelle und Kommoden her, um daraus Rädchen für seine Roller und Wägelchen zu drechseln.



Moni mit Roller








Den schlimmsten Engpass bildeten die nötigen Eisenteile. Halbeck und seine Belegschaft wollten manchmal fast verzweifeln, da fand der Chef eine neue Bezugsquelle:
Hinter dem Erlinger Bahnhof lagen noch vom Krieg her zwei D-Zugswagen, völlig ausgebrannt, neben den Geleisen und die Eisenbahner hatten nichts dagegen, dass die „Erlinger Holzwaren“-Leute diese Wagen als Rohstoffquelle ausschlachteten. Mit Karls Fahrradanhänger überschritten sie mit gebührender Vorsicht die Bahngeleise und holten dann aus dem Eisengewirr heraus, was ihnen irgendwie verwendbar erschien: Die Gepäckträger lieferten Achsen für Halbecks Fahrzeuge, die Stahlpanzerrohre die dazugehörigen Buchsen. Vorher mussten sie von den darin enthaltenen isolierten Drähten befreit werden. Das geschah unter fürchterlicher Qualm-Entwicklung in einem grossen Feuer, das in dem winzigen Fabrikhof entzündet wurde. Waren dann die Eisenteile mühsam mit der Handsäge zerschnitten und war herausgesucht, welche Buchsen zu welchen Achsen passten, und andere Eisenteile als Beschläge zusammengefügt, so musste Karl dies alles zu dem kleinen dicken Mechaniker Würstel bringen, der im Keller die nötige Schweissarbeit vornahm.


Kleiner Holzwagen






Auch die Bretter und Latten mussten, nachdem sie mit der Kreis- und Bandsäge zugeschnitten waren, von Karl erst einmal weggebracht werden. Das Hobeln besorgte der Schreiner Kramer, der an der Ecke der Bahnhofstrasse eine gut eingerichtete Werkstatt besass.
Bedenkt man, dass die selbstgebastelten Maschinen alle Augenblicke versagten, dass jeder Holzbetrieb Unmengen von Sägespänen und Staub erzeugt, dass die Arbeiter nur mit grösster Vorsicht vor oder hinter dem Kollegen nach einem etwa benötigten Werkzeug greifen konnten und dass in diesem gefährlichen Umfeld zeitweise noch zwei Hunde und zwei Kinder herum wimmelten – so wird man verstehen, dass die „Erlinger Holzwaren“-Firma nur für Leute mit sehr guten Nerven geeignet war.
Für Karl bedeutete es schon eine gewisse Erleichterung, wenn er beim Fenster an der Drechselbank stand und Holzrädchen drehte – da konnte er nicht so viel gestört werden. Aber die richtige Erholung von dieser Bude, in der er so viel Staub und Dreck schlucken musste wie noch nie in seinem Leben, kam erst, als der Winter überstanden war und er endlich wieder ins Freie auf sein Gelände gehen konnte.


















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