25 - Hedwig und die Mahdi


Einen Tag später sagte Hedwig beim Mittagessen:
„Heute Nachmittag muss ich endlich einmal zum Friseur. Meine Zotteln sind draussen auf dem Land so lang geworden! Mit meinen doofen Schnittlauchlocken mag ich mich ja selber nicht mehr sehen.“
„Und vor Maurerlehrlingen und so weiter kannst du überhaupt nicht mehr antreten!" meinte Moni, "bis jetzt hat dir deine Frisur immer ganz gut gestanden. Aber du musst ja selber wissen, was du machst, du bist ja jetzt erwachsen – ich jedenfalls bleib vorläufig bei meinen Zöpfen.“


Moni's Zöpfe


Hedwig ging also zum Friseur – nicht zum teuersten natürlich, und nach einer halben Stunde warten wurde ihr denn auch ihr Haarschopf etwas gestutzt.
Ihr Wunsch war eine Dauerwelle, nicht zu stark gekräuselt, aber ein bisschen gewellt,




und natürlich nicht zu teuer. Da kam der spitznäsige Friseur in sein Fahrwasser: es sei immer noch sehr schwierig, die richtigen Ingredenzien für diese Schönheitsprozedur herein zu bekommen. Die richtig guten kämen ja alle aus dem Ausland - nicht wahr – also da habe er ein amerikanisches Präparat bekommen, das sehr gelobt werde. Er selber habe noch nicht damit gearbeitet, aber ein Kollege, der bei den Amis schaffe – also wenn das Fräulein damit einverstanden sei, dann werde er es bei ihr ausprobieren. Ihr Haartyp scheine ihm besonders geeignet für diese Mixtur – und er werde ihr natürlich nur den halben Preis für die an sich nicht billige Zubereitung anrechnen. Hedwig liess den Wortschwall geduldig über sich ergehen und nickte ergeben: Ja, solchen Geschäftsleuten war man ja doch auf Gnade und Ungnade ausgeliefert! Also holte der Meister sein kostbares Präparat und begann seine Arbeit, schien wirklich allerhand Mühe damit zu haben, mischte und rieb und trocknete und feuchtete wieder ein, murmelte hie und da beschwörende Worte und schüttelte manchmal den Kopf, liess Hedwig zuletzt eine Stunde lang unter der Trockenhaube schwitzen und erklärte schliesslich nach zwei Stunden gesamter Arbeitszeit sein Werk für vollendet.
Hedwig sah erstaunt in den Spiegel: Was ihr da gegenüber sass, war ein ganz fremdartiges Wesen! Dieses nicht unbedingt nach dem Schönheitskanon der Filmindustrie gebaute Gesicht war links und rechts eingefasst von je einem keulenförmig abstehenden Busch aus gekräuselten Haaren, von so einer Art barocken Allonge-Perücke in schwarz – schrecklich, schrecklich!
Der Friseur sah Hedis bestürzte Mine, warf dem Lehrmädchen, das ein Kichern nicht unterdrücken konnte, einen durchbohrenden Blick zu und beeilte sich, die Kundin zu beruhigen.
„Grossartig gelungen! Ganz der New Look von USA! Etwas ungewohnt wird es dem gnädigen Fräulein natürlich noch vorkommen, aber das gibt sich beim Tragen, sagt der Schneider. Sie haben ja so wunderbares Haar, das legt sich noch besser in die Wellen – und die jungen Herren, wie die sich alle umdrehen werden nach dem gnädigen Fräulein, oh!“
„Ja, das glaub ich fast auch, dass die mir nachschauen werden – aber warum, das ist die andere Frage!“ erwiderte Hedwig und verliess nach Bezahlung des recht hohen




Preises den Salon. Sie sah sich Plakate von 2 Kinos an: eine Wildwestgeschichte und ein englischer Film : „Die vier roten Federn“. Hedwig entschloss sich, auch einmal leichtsinnig zu sein und die Reichsmark für den zweiten Platz zu opfern. Im Kino wars schön warm und der Film spielte zunächst unter feinen Leuten in England um die Jahrhundertwende. Hedwig sah so etwas ganz gerne, besonders als sich die Handlung in ein exotisches Milieu verlagerte, nach Ägypten und in den Sudan, da war sie ganz Auge und Ohr. Allmählich wurde es aber recht grausig, es drehte sich um den Aufstand von religiösen Fanatikern in Ober-Ägypten, den sogenannten „Mahdi“. Allerhand wilde Gestalten mit Speeren und Schwertern tobten da auf der Leinwand und machten den braven, rotberockten Tommys das Leben schwer – plötzlich war da ein ganzer Haufen pechschwarzer Kerle, die trugen lange Messer quer im Mund, und dazu ihre Frisur – i h r e , Hedwigs neue Frisur! „Oh, jetzt glaube ich, dass mir die Leute nachschauen werden, oh, den Friseur könnte ich zerreissen, den Schuft!“ dachte Hedwig. Während die schwarzen Burschen auf der Leinwand mit ihren langen Messern herumfuchtelten, sah sich Hedwig im halbvollen Saal vorsichtig um, ob sie etwa mit ihrer Mahdi-Frisur schon Aufsehen erregt habe – sie hatte ja nicht gerade die Absicht, als afrikanischer Filmstar hervorzutreten.


Die Mahdi-Krieger






Aber alle starrten gespannt auf die Leinwand – nur der junge Mann zu ihrer Rechten warf, so schien es ihr, hie und da recht ungenierte Blicke auf sie. Und richtig, als der schon recht abgenutzte Film wieder einmal gerissen war und eine kleine Pause eintrat, da versuchte der blöde Heini (wie Hedwig ihn im stillen betitelte) bei ihr anzubandeln.
„Aparte Frisur haben sie, gnädiges Fräulein, ist wohl der neueste Look jetzt, habe ich so noch nicht gesehen!“ schnarrte er. Nein, fing der Kerl gleich mit ihrer Frisur an, das war doch die Höhe! Hedwig schwieg.
„Ganz grossartiger Film das, das waren noch Kriege damals – der Regisseur versteht sein Geschäft! Gehen sie auch so gern ins Kino, Fräulein?“
„Ja, komme aber nicht so oft dazu.“
„Da geht es ihnen so wie mir, immer so viel Arbeit, und wenn man fremd ist hier, so wie ich, da sitzt man abends oft recht einsam auf seiner Bude."
Hedwig schwieg weiter.
„Fräulein, darf ich die Frage wagen: könnten wir nicht nachher eine Tasse Kaffee miteinander trinken?“
„Danke, ich trinke keinen Kaffee.“
„Oh, das ist schade, aber vielleicht ziehen sie eine Schokolade vor, oder ein Gläschen Südwein, etwas ganz Exquisites ...“
Plötzlich war das Licht wieder aus, Hedwig war vorläufig einer Entscheidung enthoben. Die Krieger der Mahdi tobten weiter mit Gebrüll über die Leinwand, es wurde schon ekelhaft, dieses Blutvergiessen – Moni wäre schon längst ausgerückt.
Glücklicherweise trug nur ein einziger Negerstamm Hedwigs Frisur, und ausserdem konnten die Aufständischen natürlich nicht auf die Dauer den heldenhaften Briten Widerstand leisten.
Als das Publikum sich hinausdrängte, war da doch wieder die Stimme:
„Also, verbleiben wir dabei, gnädiges Fräulein, zu einer Tasse Schokolade oder einem Gläschen Südwein, ich weiss da ein sehr nettes Cafe gleich in der Nähe ...“
„Danke , nein, Wein trink ich auch nicht, und ausserdem ist es schon halb acht Uhr, meine Schwester wartet daheim auf mich und weiss nicht, wo ich so lange geblieben




bin, ich wollte ja eigentlich nur zum Friseur gehen ..." „Aha, daher die aparte neue Frisur! Aber dann ein andermal, sie würden mich glücklich machen! Wie wäre es mit dem nächsten Dienstag, hätten sie da ein Stündchen Zeit für eine einsame Seele? Um acht Uhr im Cafe Ringler? Bitte sagen sie ja, sie machen mich zum glücklichsten Menschen der Welt!“
Jetzt musste Hedwig wirklich lachen.
„Na, sie Sprüchemacher! Wie vielen Mädchen haben sie denn das schon gesagt? Na ja, ich will mirs überlegen – vielleicht komme ich, aber nur vielleicht!“
Und während der ca. 28 jährige sich eine Zigarette anzündete, verschwand Hedwig im Dunkel der Altstadtgassen.
Monika hatte schon lange den Tisch gedeckt und wartete hungrig auf die Rückkehr der Schwester. Sie sah zur Tür, als sie draussen die vertrauten Schritte hörte, aber sie erschrak, was da für ein fremder Mensch im Türrahmen stand:
„Ja Hedi, was haben sie denn mit dir gemacht? Sind d a s die neuen Dauerwellen? Ja schau doch mal in den Spiegel! Jetzt brauchst du dich bloss noch braun anmalen und die Lippen knallrot und die Stöckelschuhe anziehen ...“
„...und einen Ring durch die Nase, was?“
„Ja, den meinetwegen auch noch, und dann in die Bahnhofstrasse gehen, dann nimmt dich jeder schwarze Mac mit in seinen Cadillac!“
„Du bist gemein! Das ist die neueste Frisur, wie man sie jetzt in New York hat, der New Look, und wenn du kein Verständnis hast für modische Dinge, so kann ich dir auch nicht helfen. Natürlich ist die Frisur noch nicht ganz fertig, die Wellen werden sich in ein paar Tagen wieder glatter legen und nicht mehr so abstehen!“
„Na, weisst du, das Gescheitste wäre, den ganzen Kram noch mal abschneiden, so ganz kurz habens manche Mädel jetzt bei uns in der Schule, Windstossfrisur heisst man es, das tät dir sicher gut stehen – und ist auch sehr praktisch, brauchst bloss mit den Fingern durchs Haar zu fahren und schon bist du gekämmt! Geh doch noch mal zu dem Friseur, für das viele Geld muss er dich doch so herrichten, dass man dich anschauen kann ...“
„Jetzt hör aber auf, du verstehst nichts von Frisuren und zu dem Friseur geh ich nicht mehr, da kannst du sagen was du willst!“





Hedwig mit Mahdi-Allonge-Frisur


(A.R.: die Allonge-Perücke = europäische Version der Mahdifrisur wurde von Ludwig XIV. als langlockige Hoftracht eingeführt, war als Zopftracht bis zur franz. Revolution üblich, heute noch manchmal bei englischen Richtern im Gebrauch.)

Zwei Tage später kamen die Eltern heim, weil ihre Vorräte zu Ende waren. Sie schauten etwas verwundert auf Hedwig, die sich inzwischen halbwegs an ihre Allonge-Perücke gewöhnt hatte, und die Mutter liess sich gleich die Geschichte dieser Errungenschaft erklären. Den Vater interessierten die Einzelheiten weniger, allerdings konnte er später nicht umhin, des öfteren über Negerfrisuren zu spötteln.

Dann erzählte Monika von dem netten Besuch, den sie gehabt hatten – das war gut, denn als die Frau Hinterhuber am nächsten Morgen Ilse auf gewisse Vorkommnisse aufmerksam zu machen sich gestattete – „eigentlich geht’s mich ja nichts an, aber man fühlt sich doch verpflichtet, nicht wahr, man ist doch selber Mutter – also ich weiss nicht, ob es ihnen schon bekannt ist, dass ihre Töchter neulich Besuch gehabt haben – von einem jungen Mann und sogar über Nacht“ – da konnte Ilse mit




kühler Miene der Nachbarin erwidern „das i s t mir bekannt“ und die Tür schliessen.

Also, die Eltern hatten nur gelacht über die Gastfreundschaft der Mädchen, und dann war Hedwig zu Wort gekommen mit ihrer wichtigsten Neuigkeit:
„Was ich erfahren habe, gestern war ich beim Arbeitsamt, wollte mir doch die Zuweisung holen für die Stelle bei Dieckerhoffs, und denkt euch, was sie mir gesagt haben – ich könne auch hier eine Lehrstelle haben als Handweberin, nur fünf Minuten von uns weg! Das wäre herrlich, wenn ich hier bei euch bleiben könnte!“
Das leuchtete allen ein, am nächsten Morgen ging man gleich zu der Meisterin. Die war jung und sehr nett, fand auch Hedwig ganz annehmbar – über die Mahdi-Frisur, die nicht so recht zum traditionellen Handweberei-Stil passte, ging sie mit einem verwunderten Blick hinweg.
Drei Tage später war es fest abgemacht: am ersten März fing Hedwig bei dem netten Fräulein Kling als Handweber-Lehrling an. Dieckerhoffs waren betrübt, als sie das hörten, mussten aber doch einsehen, dass man ein Mädchen bei den jetzigen Zeitverhältnissen lieber im Hause behielt.
Hedwig freute sich sehr – „und jetzt täte mir noch eines zu meinem Glück fehlen!“
„Ja was denn, mein Kind?“ „Vorher noch ein paar Tage richtig skilaufen!“
„Ja mach es doch! Der Vater könnte ja doch auch noch mal mitfahren, der hätte genug Zeit, allein wirst du doch nicht gerne fahren wollen?“
Der Vater war gern einverstanden und freute sich auch und nur Moni fragte traurig: „Und ich?“
„Ja, du wirst wohl hier bleiben müssen und schön brav in deine Schule gehen! Da kannst nix machen!“
„Kann man wirklich nix machen? Früher hats doch manchmal so ärztliche Zeugnisse gegeben?“
„Ja, du schlaue Suse, da schau halt, dass du schnell Keuchhusten oder Neigung zu Rachitis kriegst!“
„Wollen mal sehen, was sich machen lässt! Kommt Zeit, kommt Rat!“
Am Dienstag ging Hedwig den ganzen Tag etwas unruhig hin und her: das erste





Rendezvous, auf das sie sich eingelassen hatte, liess ihr keine Ruhe.
Ob sie nicht doch die Mutter ins Vertrauen ziehen sollte? Aber nein, einmal musste man ja erwachsen werden – so zog sie also abends ihr bestes Winterkleid an, das schwarze Jackenkleid mit den grünen Aufschlägen, das sie sich aus Vaters Hochzeits-Smoking geschneidert hatte, und sagte:
"Ich geh heut Abend weg. Auf Wiedersehen!" Die Eltern schauten etwas verwundert, das hatten sie noch nie erlebt, dass ihre Älteste beim Weggehen nicht sagte, wo sie hinging.
Nun, sie ist ja schon zwanzig Jahre alt, und wir werden schon noch erfahren, was sie heute vor hat. Aber sie sollten es nicht erfahren. Nur der Monika vertraute Hedi am nächsten Tag so nebenbei an, der Junge aus Norddeutschland sei ein blöder Affe, er liess sie erst eine halbe Stunde allein im Cafe warten. Dann habe er immer bloss von seiner Tüchtigkeit renommiert und auf dem Heimweg ihr natürlich einen Kuss geben wollen – den Kerl habe sie aber abfahren lassen!





















dreifels ag