23 - Pulverschnee und Bombenhagel

Der Winter wurde streng, aber es war doch nicht mehr so trostlos wie ein Jahr früher. Den schmalen Nahrungsmittelrationen entsprechend schlief man lang und arbeitete wenig. Das Stadtbauamt hatte, nachdem ein volles Jahr lang Wohnungen und Trümmerhaufen gemessen wurden, wirklich keine Arbeit mehr für die entlassenen Pg's, und darum waren sie nun auch von ihrer Baufirma wieder entlassen worden. Korns beschafften sich nun mit den Skiern wieder etwas Bewegung. Sie liefen eine lange Strecke über die Hügel und durch die verschneiten Wälder.


Winterliche Streifzüge






Auch nach Erling wanderten sie einmal, vom Endpunkt der städtischen Straßenbahn in einem weiten Bogen über Hochstadt und die angrenzenden Hügel bis an den Fluss und ihr Ländle. Im Grundstück war alles noch in Ordnung, Fichten und Kiefern dicht verschneit. Später allerdings mußte man feststellen, daß die kleinen Obstbäumchen stark durch Wildfraß gelitten hatten – die Höhe der Drahtgitter war eben mehr auf Hasen als auf Rehe berechnet gewesen!

Daß das Leben so ganz, ganz langsam wieder Anstalten machte, sich dem sogenannten Normalzustand zu nähern, sah man am Besten daraus, daß man sogar wieder größere Reisen machen durfte, ohne Passierscheine und ähnliche Erschwernisse.
An Weihnachten bekam Familie Korn Besuch von Tante Grete aus Nürnberg. Sie hatte sich von jeher sehr um ihre Nichten angenommen und auch in den schlimmsten Zeiten immer noch Festüberraschungen textiler Natur aus ihren da und dort ausgelagerten Vorräten hervorgeholt. Die gute Schürzentante nannte man sie, denn die Konstruktion immer neuer Schürzen - Typen war ihr besonderes Anliegen in ihrer Tätigkeit als Handarbeitslehrerin.
Ein Bekannter vom Skilager her, der Chemiker Arthur Dieckerhoff, stand eines Tages vor der Tür. Karl erkannte ihn nur mit Mühe wieder:
"Ja Arthur, lebst du auch noch! Das ist schön, dass du uns einmal besuchst! Wie geht’s dir und Claire, immer noch DYNAMIT?"
„Was soll das heissen: DYNAMIT, das ist lange vorbei, wie kommst du jetzt darauf?"
„Na, ich muss immer noch daran denken, wie du damals vom Sägewirtshaus aus überall um eine Unterkunft für uns vier herumtelefoniert hast. Das ging immer „hieristdeutsche DYNAMITdoktor dieckerhoff“, die am andern Ende der Leitung haben sicher immer nur gehört DYNAMIT, aber sie haben keine Betten frei gehabt für uns."
Arthur musste selber lachen: „Aber wir sind ja dann doch noch in der Hütte untergekommen, die Besitzerin wollte erst durchaus nicht, denn sie wollte ihre Ruhe haben!“ Karl erinnerte sich an die schönen Skitouren, die er zusammen mit einigen





Frauen, auch der von Arthur, gemacht hatte, aber auch an die schrecklichen Ereignisse in dieser Zeit.


Aufstieg zum Riedberger Horn


Eines nachts in der Skihütte wachte Karl öfters auf vom Dröhnen mächtiger Bombengeschwader, die von Süden her über die Berge gezogen kamen.
Als er um Mitternacht unruhig aufstand und zum Fenster ging, war der Himmel weithin gerötet, das Blitzen vieler Detonationen und das dumpfe Grollen in Richtung der Heimatstadt hatte ihn das Schlimmste befürchten lassen.
Schon am frühen Morgen war er dann zum nächsten Telefon geeilt, bekam aber keinerlei Verbindung zur Stadt, da machte er sich sich schleunigst auf den ungewissen Heimweg : zwei Stunden auf Ski zum Bahnhof, im Gasthaus die geliehenen Ski abgegeben, Fahrkarte zur Heimatstadt gab es nicht, keine Nachricht, ob überhaupt Züge bis dorthin verkehrten. Nach langem Warten kam endlich ein Lokalzug. Nach zweimaligem Umsteigen und vielen Aufenthalten war plötzlich, zwanzig Kilometer vor der Stadt, der strahlend blaue Winterhimmel schwarz verdunkelt.
Dann überall Züge von Geflüchteten, mit Schlitten und Kinderwagen trostlos durch




Rauch und Kälte dahintrottend, langer Halt am Rande der brennenden Stadt. Endlich bei sinkender Nacht Einfahrt in einen verwüsteten Bahnhof. Kein Eisenbahner zu sehen, der nach Fahrkarten gefragt hätte.
Einzelheiten erfahren wir nun aus folgendem Bericht, den Karl nach dem Bombenangrifdf aufgeschrieben hat:
"Die Stadt hatte an diesem 25./26. Februar 1944 die schlimmste Nacht seiner Geschichte erlebt. Nachdem schon am Nachmittag des 25. ein schwerer Angriff auf die Messerschmittwerke und ihre Umgebung (Haunstetten) stattgefunden hatte, ist in der Nacht zwischen 23 und 3 Uhr das alte Stadtzentrum fast völlig zerstört worden. Es ist leichter zu sagen, was noch steht, als was abgebrannt und zertrümmert ist. Von den berühmten alten Bauten steht nur noch der Dom, das Ulrichsmünster ( stark beschädigt), das Schätzlerpalais in der Maximilianstrasse, das Zeughaus und die Dominikanerkirche, alles, aber auch alles andere ist zerstört. Auch die meisten Vorstädte sind schwer geschädigt mit Ausnahme von Oberhausen, Pfersee, Kriegshaber und Buchenau.
Als ich von meinem Skiurlaub aus dem dunklen und teilweise abgebrannten Bahnhof herauskam, bot sich mir ein schauriges Bild: das grosse Bahnpostgebäude war fast völlig eingestürzt und in Flammen, und so ging es in der Bahnhofstrasse weiter, fast alle die grossen Geschäftshäuser waren ausgebrannt. Viele Feuerwehrleute waren noch an der Arbeit. Am Hitlerplatz (heute Königsplatz) waren die Anlagebänke zerfetzt, das Zentralkaufhaus abgebrannt, das Justizgebäude stand noch in hellen Flammen, ebenso das schöne, neu ausgebaute Stadttheater.
An der oberen Ecke Gesundbrunnen – Klinkertor ein riesiger Trümmerhaufen, dann wurde es allmählich friedlicher. An der Wertachbrücke brannte ein dreistöckiges Haus und mit grossem Geklirre gingen gerade die Schaufensterscheiben in Stücke, ohne dass ein Mensch sich um den Brand kümmerte.
Rechts stand ein gewaltiger Feuerschein am Himmel von der MAN, die Oberhauser Kirche war ebenfalls völlig ausgebrannt. Das Gaswerk aber stand noch, die Werkswohnung war bis auf die Möbel ganz ausgeräumt und alle Sachen in den Keller geschafft, wo jetzt ein fürchterliches Durcheinander herrschte.




Die nächsten Tage gab es natürlich sehr viel Arbeit, auf meinen dienstlichen Wegen sah ich dabei allmählich den grössten Teil der Stadt, und bei jedem Mal wurde der Eindruck trostloser. Der innere Teil der Altstadt ist so gut wie völlig zerstört, meist durch Feuer. Da dem ersten Angriff nach etwa einer Stunde ein zweiter folgte, konnten wohl die Leute nicht mehr löschen.

Das Rathaus mit dem einzigartigen goldenen Saal ist heruntergebrannt, der Perlachturm rauchte gestern noch und wird wohl nicht mehr lange stehen, all die schönen alten Patrizierhäuser sind abgebrannt, die Fuggerhäuser, das Weberhaus, das Konservatorium, Kröll & Nill, drei Mohren, dazu das Riedingerhaus, das Apollotheater mit dem Filmpalast, die Barfüsserkirche, die Moritzkirche und die katholische Kreuzkirche sind ebenfalls vernichtet.

Das Lechviertel bietet ein Bild schauriger Verwüstung, stellenweise waren noch die Bäche ausgetreten und überschwemmten die Trümmerhaufen auf den Strassen mit Eis und Schneeschlamm. Die Jakober-Vorstadt mit Jakobs- und Maxkirche, Fuggerei und Jakobertor ist ebenfalls völlig zerstört, das Hauptkrankenhaus stark beschädigt, das Diakonissenhaus beim Bahnhof teilweise abgebrannt.

Höchstetter-Erker an der Ludwigstrasse




Am Jakober- und Oblatterwall mit dem schönen alten Baumbestand herrscht eine trostlose Verwüstung, ebenso in den Strassen der MAN entlang, die auch äusserst schwer getroffen ist. An dieser Strecke wurden hauptsächlich Sprengbomben und Minen geworfen, welche die Häuser, Bäume und alles andere völlig in Fetzen schlugen.
Alles in allem kann man wohl schätzen, dass die Hälfte der Augsburger obdachlos geworden sind und dass nur der kleinere Teil davon je wieder in ihre Häuser wird zurückkehren können. Natürlich gab es auch viele Tote, man sprach in den ersten Tagen von 8oo, es werden aber wohl leider noch mehr werden.
Strom- und Wasserversorgung sind nach dem Angriff völlig ausgefallen und kommen jetzt erst ganz allmählich in Gang.
Im Beamtenwohnhaus waren die Fenster und Läden zum Teil zertrümmert, das Dach ziemlich beschädigt.
Der grosse Gasbehälter hatte zwei faustgrosse Löcher, an denen wir ein paar Tage herumflickten und die wohl von einer der beiden Bomben stammten, die den Oberhauser Bahnhof und fast die ganze Neuhäuserstrasse ( in der wir früher wohnten) zerstört haben.
Da wir im Gaswerk fast ohne Schäden geblieben sind, gehören wir zu den wenigen Glücklichen, die sofort wieder elektrisches Licht (vom eigenen Notstromagregat) und sehr bald wieder Wasser hatten. Die Strassen der Stadt sind gefüllt mit Fahrzeugen aller Art, bis von Berlin sind Hilfszüge hergekommen, Verpflegung wird bis aus der Münchner Gegend hergefahren, Tausende von Soldaten haben in den letzten Tagen die Strassen für den Verkehr frei gemacht, sind jetzt allerdings zum grössten Teil wieder verschwunden.
Vorgestern waren besonders viele Bauern- und andere Fuhrwerke zu sehen, welche die jämmerlichen Reste der Einrichtungen aufs Land brachten. In der Altstadt war es stellenweise totenstill, besonders wo die Strassen zum Sprengen abgesperrte waren.
Merkwürdigerweise ist die Schule von Hedwig und Moni mitten im grössten Schadengebiet fast völlig verschont geblieben, aber die Schülerinnen haben sich in alle Winde zerstreut."
Karl dachte an die schlimmen Tage zurück, während Arthur von seinem Schicksal und dem seiner Frau erzählte.




Ihnen war es bitter ergangen, die Dynamitfabrik mit ihrer Werkwohnung lag in Trümmern, in dem nahegelegenen Städtchen fand sich keine Existenzmöglichkeit, aber Claire hatte sich ihrer kunstgewerblichen Fähigkeiten erinnert und eine Stunde weiter in einem Dorf eine Handweberei eingerichtet.
Handweberei! Ilse, die inzwischen nach Hause gekommen war, horchte auf: das wäre doch endlich eine Berufsmöglichkeit für Hedwig, die sich bei den Bauern abquälte!
Arthur stimmte zu, seine Frau könne gut noch einen Lehrling neben den beiden angelernten Mädchen beschäftigen. Das Meisterdiplom habe sie ja. Eine richtige volle Lehrzeit, damit könne man später überall bestehen!
Man war sich rasch darüber einig, dass man auf jeden Fall an Ort und Stelle verhandeln müsse, schrieb gleich an Hedwig, dass sie an Lichtmess, wie es auf dem Lande noch Brauch war, ihre Stelle aufkündigen solle.
Prompt traf sie zu Hause ein und fuhr dann gleich einmal mit dem Vater los, und da Claire sehr nett war und auch ein eigenes kleines Zimmer für Hedwig bereitstand, war man sich rasch einig. So ganz himmelhoch begeistert war allerdings Hedwig nicht, es bedrückte sie etwas, dass sie, endlich wieder heimgekommen, schon gleich wieder hinaus aufs Dorf zu fremden Leuten ziehen sollte – und gleich auf zwei lange Jahre!
Ein paar Wochen sollte sie wenigstens daheim bleiben, bis der strengste Winter vorbei war, sagte die Mutter. Nach einer Woche aber meinte der Vater, eigentlich habe die Mutter auch einmal ein bisschen Erholung und andere Luft nötig und die zwei Mädchen könnten doch ganz gut ein paar Tage allein wirtschaften. Ilse stimmte begeistert zu, begann auch gleich die Rucksäcke voll Proviant zu packen und die beiden fuhren aufs Geratewohl los.
Ganz in der Nähe ihres früheren Stammquartiers fanden sie in einer grossen bewirtschafteten Almhütte ein annehmbares Matratzenlager und eine nicht grosse, aber lustige Gesellschaft. Verpflegung war nicht viel zu haben, so musste sich die Dauer des Aufenthaltes nach den mitgebrachten Vorräten richten.







dreifels ag