21- Karl und das verlorene Paradies


Eines vormittags stand Karl in einem Vorort vor einer der Anschlagtafeln, die damals die Zeitungen ersetzten und mit vielen kleinen Zettelchen beklebt waren, mit Suchanzeigen für vermißte Soldaten, Tauschgesuchen aller Art und mit Heiratsgesuchen einsamer Seelen. Da schlug ihm jemand auf die Schulter und er hörte eine helle Stimme:
"Ja, Karl, was machst du denn hier?"
Verblüfft drehte er sich um und schaute in ein etwas schmal und spitz gewordenes, aber doch vertrautes Gesicht.
"Ja, kennst du mich vielleicht gar nicht mehr?" lachte die Frau. Ja, sie war es, die blonde Friedel, lebenssprühende Genossin so vieler Bergwanderungen.
"Wie geht’s, was macht ihr denn? So lange haben wir von euch nichts gesehen und gehört, seid ihr noch draußen bei den Bauern am Weihergut?"
"Nein, schon lange nicht mehr. Der Andreas hat wieder Arbeit in der Fabrik, und wir wohnen jetzt bei meinen Eltern, ein Zimmer haben wir, ist schon groß, aber eng genug mit den zwei Kindern! Und ihr?" Karl erzählte von dem Winter im Eispalast und von den Plänen und Arbeiten draußen, Friedel seufzte:
"Ach, ich käme ja gern hinaus mit euch, und der Andreas natürlich auch! Aber wir kommen jetzt einfach zu nichts, je primitiver man eingerichtet ist, desto mehr Arbeit hat man, kannst dirs ja denken, mit den zwei kleinen Kindern. Der Andreas hat auch wenig Zeit, im Betrieb müssen sie ja alles erst wieder aufbauen und wenn er frei hat, fährt er hinaus in den Wald, Beeren und Pilze suchen, oder wir gehen zu den Bauern und schauen, dass wir ein bissel was ergattern –" sie seufzte abermals - "ja, Karl, so ists halt - aber irgendwann kommen wir schon wieder!" "Besucht uns doch mal in unserem Palast, Ilse wird sich sehr freuen!"




"Ja, das mach ich, und aufs Auenland kommen wir auch einmal, du hast mir jetzt richtig Sehnsucht gemacht mit deiner Erzählung!"
Karl sah ihr gedankenvoll nach, als sie federnden Schrittes davoneilte.
In den folgenden Wochen trafen sich die beiden Frauen ein paarmal. Aber mit dem geplanten Ausflug aufs Auenland wollte es längere Zeit nichts werden, bis an einem warmen Augustsonntag. Karl war nachmittags ausnahmsweise ganz allein hinausgefahren, aber als er auf dem schmalen Schmuggelpfad entlang radelte und auf den freien Platz vor der Hütte kam, sah er überrascht, daß Friedel mit ihren zwei kleinen Mädchen gerade vor ihm eingetroffen war. In ihrer Gesellschaft war noch ein dunkelhaariges Mädchen, Friedels jüngere Schwester, ohne sie wäre dieser Ausflug gar nicht möglich gewesen, denn zwei so muntere kleine Krabben hätte Friedel kaum zusammen auf ihrem Fahrrad mitbringen können.
Friedel meinte: "Karl, könnten wir uns nicht einmal das große Gelände wieder ansehen, das wir früher von der Gemeinde gepachtet hatten? Ruth kann ja mit den Kindern hier bleiben! Ich weiß, du hast die Pacht wieder aufgegeben, weil ja fast niemand mehr gekommen ist nach dem Krieg, aber wir könnten doch einmal schauen, wie es jetzt aussieht!

Blick in Altwassertümpel





Und vielleicht können wir auch im Fluß schwimmen, dazu bin ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gekommen. Ruth, bist du so lieb und bleibst hier mit den Kindern – oder möchtest du auch gern schwimmen? Dann kann ja der Karl nachher mit dir noch einmal hinübergehen zum Fluß!"
"Ja, ist recht, aber kommt bald wieder!"
Friedel und Karl gingen hinaus durch das südliche Tor, zu dem ein kaum erkennbarer Fahrweg hereinführte, und befanden sich alsbald in einer unberührten und noch dichteren Wildnis.
Da waren einzelne Lichtungen, auf denen es im Frühjahr zwischen der Schneeheide die tiefblauen großen Kelche des stengellosen Enzians gab, hie und da auch die bärtigen Glocken der Küchenschelle.
Jetzt war davon zwar nichts zu sehen, dafür blühten verstreut einige andere Enzianarten: die violetten Blütenbüschel des deutschen Enzians, die an eleganten Stengelbögen aufgereihten dunkelblauen Kelche des Schwalbenwurz-Enzians und die aufrecht stehenden hellblauen Blüten des gewimperten Enzians mit den feinen Härchen an den Blütenblättern.

Moni mit Händelwurz





Die vielen Arten von Orchideen dagegen, die dort im Anschwemmungsland des wilden Gebirgsflusses noch stellenweise gediehen, waren jetzt im Spätsommer schon alle verblüht, nur die schlanken spitzen Blütenstände der Händelwurz waren hie und da noch zu sehen. (A.R.: vom Autor erschien 1958 in den Friedberger Heimatblättern eine genaue Auflistung der in den Lechauen vorkommenden Pflanzen.) Nachdem sie das Heideland mit seinen botanischen Kostbarkeiten, wie z.B. die blühenden Silberdisteln, durchschritten hatten, gingen Karl und Friedel hintereinander wieder am Bach entlang, wo meterhohe Gräser zusammen mit den rosa Weidenröschen, den weißgelben Rispen des Mädesuß, den mächtigen Dolden der mannshohen Engelwurz und dem Geschling der Waldrebe ein schier undurchdringliches Dickicht zwischen den Erlen und Weidenbüschen bildeten.


Silberdisteln auf der Heide


"Und hier habt ihr doch vor ein paar Jahren einen schönen Weg ausgehauen zum Schwimmtümpel! Kein Weg und Steg mehr zu erkennen! Doch, da ist noch das Sprungbrett!" Der Tümpel, eine Erweiterung des Baches an einer Krümmung, war früher, als sie das große Gelände von der Gemeinde gepachtet hatten, ein netter



Badeplatz gewesen; etwas schlammig zwar, aber doch brusttief, sodaß es sich gelohnt hatte, ein einfaches Sprungbrett anzulegen. Jetzt lag er völlig unberührt da, von Schilf und Büschen eingefaßt, in der brütenden Mittagshitze von Fliegen und Bremsen umsummt, zwischen denen ein paar stahlblaue Libellen schwirrten. Karl stieg vorsichtig ins Wasser, versank aber gleich bis an die Knie im Schlamm, und als er noch einen Schritt vorwärts wagte, schaffte er es kaum, die Beine wieder aus dem zähen Grund herauszuziehen. Mühsam zog er sich auf den schmalen Steg herauf. "Pfui Teufel, wie hat sich das verändert – wenn man denkt, was wir früher hier für Seeschlachten ausgefochten haben mit unserem Boot!"

Paddelbootfahrt auf dem Bach


Es herrschte völlige Stille – wenn man absah vom Rauschen des nahen Flußes, vom Wispern des Schilfes, vom Schwirren und Sirren der Insekten, vom Zwitschern vereinzelter Vögel – je länger man so schweigend dalag, desto mehr merkte man, daß es eine völlige Stille in der belebten Natur gar nicht gibt.




Karl begann, Friedel von seinen Jugendtagen zu erzählen, von seiner Studenten- und Wandervogelzeit.

Bald standen sie auf, überschritten an einer seichten Stelle den Bach und schlugen sich durch die Büsche hindurch zum Fluß.










Erfrischt kamen sie zu Ruth und den Kleinen zurück, die der Mutter jubelnd entgegen sprangen, und auch Ruth, die schon etwas ungeduldig geworden war, kam unter Karls kundiger Führung noch zum ersehnten Schwimmbad.







dreifels ag