Aber dann an der Mauthalle begann die Verwüstung: die Mauthalle selbst, deren gewaltiges Dach schon vor 2 Jahren dem Brand zum Opfer gefallen war, war jetzt nur noch ein Mauerrest, Steinhaufen links und rechts, wo früher alte Bürgerhäuser im Gewande moderner Geschäftshäuser gestanden hatten. Nürnberg hat in den letzten Jahrhunderten meist in Sandstein gebaut und so harren überall in seinen zerstörten Strassen grosse Quadersteine der Wiederverwertung, bald in wirren Haufen, bald um Weg zu schaffen, zu zyklopischen Mauern aufgeschichtet.
Die Lorenzkirche hat auf allen Seiten schwere Schäden – doch scheint es den Bomben bis jetzt fast noch nicht möglich zu sein, die erhabene Schönheit solcher grossen Dome völlig zu zerstören. Rings um die Lorenzkirche nur Ruinen, das hochstrebende Nassauerhaus eine leere Hülse. Überrascht der Blick im Norden: die Burg, sonst noch nie von hier zu sehen! Schon immer war sie die Bekrönung der alten Kaiserstadt, aber aus der Überbauung der Altstadt war sie nur an wenigen Stellen sichtbar. Heute taucht ihr Bild an vielen Stellen unerwartet über der Zerstörung auf.
Zwar nicht ganz in alter Schönheit – die alte Kaiserburg ist ausgebrannte Ruine, auch der hohe Kornspeicher der Kaiserstallung – aber doch in den gewohnten Umrissen. Der Gang hinab zum Herzen der Stadt gibt immer wieder Fragen auf, welche vertrauten Häuser einst hier und da gestanden haben, in der Königsstrasse, in der Kaiserstrasse, in der geschäftigen Plobenhofstrasse mit ihren grossen schönen Höfen. Seltsam, dass die alten Brücken über die Pegnitz noch erhalten geblieben sind. Strudelnd rinnt das Wasser um Trümmer.
Das Heiliggeistspital ist vernichtet, die schweren Bogen über dem Wasser stehen noch, aber es fehlt der vertraute Abschluss durch das rote Ziegeldach. Bange tastet sich der Blick zum Hauptmarkt. Die Frauenkirche ist eine leere Maske geworden, nur die Schale des Chors steht noch mit dem Türmchen, wo wir so oft mit Begeisterung die 7 Churfirsten um den Kaiser wandeln sahen. Und der Marktplatz, diese Perle der Stadt, ist eine Wüste. Kein einziger Giebel ragt mehr empor, kein Fenster, keine Türe – nichts als Trümmer und wahnsinnige Zerstörung. Die Häuser auf der Westseite scheinen in einen Abgrund gestürzt zu sein, so offen klaffen die tiefen Keller.
Nur der schöne Brunnen, auch schon totgesagt, ist noch gut erhalten. Man hat ihn
in ein dickes Mauerkleid gesteckt, aus dem oben wie eine seltsame Blume im Schutt die 2 Meter hohe buntbemalte Fiale emporragt. Noch ein einziges unersetzliches Kunstwerk sah ich wie durch ein Wunder erhalten: das Chörlein am Sebalder Pfarrhaus. Vom Rathaus steht die mächtige Barockfassade noch fast ganz, ausgebrannt ist der grosse Saal und was sonst noch drinnen war, auch die neuen Rathausteile mit ihren hochragenden gotischen Schauseiten und ihren Beton- und Eisenkonstruktionen haben der Wut der schweren Bomben nicht standgehalten. Gegenüber neben der Sebalduskirche liegen runde Säulentrümmer am Strassenrand – aha, hier war die alte Hauptwache mit ihrer kettenumwehrten Terrasse. Das Bratwurstglöcklein mitsamt der Moritzkapelle ist spurlos verschwunden.
War der Gang durch die Altstadt schon traurig, so wurde er jetzt zu einem Gang durch das Reich des Todes. Schmale Pfade führten durch die Theresienstrasse zum Laufertor zwischen Trümmern und Steinhaufen, kaum ein Mensch war in dem trüben Licht des Wintertages zu sehen. Ein Blick zum Egydienberg hinauf zeigte die Kirche und das Gymnasium ausgebrannt, das beherrschende Pellerhaus verschwunden.
In der inneren Laufergasse erschrak ich plötzlich: wie kam Musik hier in dieses Totenreich ? Aber da lebten noch Menschen, ein ganz erhaltenes Haus, unten das Schild eines Photographen, drinnen ein Radio in Betrieb, als ob nichts gewesen wäre! Und vor dem geköpften Lauferschlagturm waren noch 3 erhaltene Häuser, in denen Menschen wohnten, ein Mädchen eilte mit einem Krug über die Strasse, wohl um damit Wasser am Fluss zu holen, wie seine Vorfahren vor 1000 Jahren.
Und auch sonst gab es im Trümmerfeld hie und da noch Zeichen von menschlichem Leben. Bergpfade führten zu Kellern oder stehen gebliebenen Hinterhausteilen und ein Luftschutzwart gab auf einem Zettel bekannt, dass er im Bunker am Laufertor wohne. Die 4 alten Tortürme von Nürnberg haben nämlich wieder wehrhafte Bedeutung erhalten, mit ihren 4 Meter dicken Mauern sind sie zu Luftschutzbunkern ausgebaut worden.
Vergebens wartete ich auf eine Strassenbahn nach Erlenstegen und musste mich entschliessen, meinen alten Schulweg zu Fuss fortzusetzen. Die alte Vorstadt, in der
ich meine Jugend verlebt hatte, lag auch in Trümmern,in der Bismarckstrasse konnte man an manchem Hause im Querschnitt den Gegensatz zwischen Sandsteinfassade und ordinärem Backsteingerippe feststellen. Das Schulzimmer, in dem ich voll Selbstbewusstsein in die erste Klasse eingetreten war, stand auch nicht mehr. Aber von dort ab war es dann zu Ende mit den Zerstörungen, manches war geändert seit den letzten 30 Jahren, manches gleich geblieben. So standen da auch noch die alten Schlösschen mit ihren langen Gartenmauern.
Freilich, der schöne sandsteinerne Torbogen war bei dem einen eingestürzt und das breite und kahle äussere Stück der Bismarckstrasse erweckte lebhafte Erinnerungen an die Gruppe alter Eichen am geheimnisvollen dunklen Tümpel, die einst dort gestanden war.
Um einmal in alten Pfaden zu wandeln, ging ich nicht rechts von der Pechfabrik die Strasse hinauf, sondern links den Fusspfad, der war wirklich noch ganz wie vor 35 Jahren und zog sich noch wie damals in grundlosem Bogen durch die Felder zum Steinplattenweg.
Um halb zwei traf ich bei meinen Schwestern ein. Die Wanderung durch Nürnberg hatte doch 2 Stunden gedauert.
Klara und Grete hatten gerade erst ihr Mittagessen fertig und trugen es vom 1.Stock nach unten, denn da es kein Gas gibt, müssen sie oben kochen, wo ein Kohlenherd steht. Grete hat oben 2 Zimmerchen mit ihren geretteten Sachen eingerichtet, es fehlen ihr nur Schränke, Schreibtisch und Büffet und sie ist sehr traurig, dass sie ihre schönen Stuben im Wohnheim verloren hat und dass sich niemand gefunden hatte, ihr die grossen Möbel herauszuschaffen, bevor der Brand langsam das ganze Haus verzehrte. Auch ihren Beruf muss sie jetzt aufgeben, denn nach diesen Zerstörungen ist es auch mit den Resten des Schulwesens in der Stadt bald vorbei.
Nun müssen sich die zwei Schwestern wieder etwas zusammenraufen und um das froh sein, was sie bis jetzt noch besitzen. Nachmittag und Abend vergingen mit Gesprächen, Essen und Trinken und nachts um 12 Uhr machte ich mich wieder auf meine Reise.
Über Jobst, wo die Ruine des Kirchleins traurig gegen den Nachthimmel stand, wanderte ich die Sulzbacherstrasse hinein. Auf halbem Wege begannen wieder die
Trümmerstätten, noch viel unheimlicher im Dunkel der Nacht. Kein Laut als hie und da der Schritt eines einsamen Fussgängers – manchmal das hohe Dröhnen eines vom Wind bewegten Bleches, das wie eine riesige schwarze Fahne oben an dem alten Schulhaus langsam hin- und herwehte. Gegenüber unserm halbzerstörten neuen Gymnasium, auf dessen Giebel noch die römische Wölfin undeutlich zu erkennen war, plätscherte eine Quelle zwischen Steinen. Dann der Weg am Graben entlang zum Bahnhof, dessen kahle und leere Hallen gegen dieses Inferno wohnlich erschienen, hier waren wenigstens noch Licht und ganze Mauern. 1 Uhr 45 sollte der Berliner Schnellzug abgehen und ich wunderte mich schon etwas, dass ausser einer Gruppe Flüchtlinge mit grossem Gepäck fast kein Mensch auf dem Bahnhof zu sehen war. Ich ging durch die Sperre – da rief mir das Knipsmädchen nach: „Hallo, sie wollen nach Leipzig, der Zug geht ja in Fürth ab – aber wenn sie laufen, kriegen sie vielleicht auf Bahnsteig 8 den Pendelzug noch, der sollte eigentlich schon weg sein !“ Nun, ich kriegte ihn noch, und der vollgestopfte Zug brachte mich mit 2 Aufenthalten nach Fürth.
Dort sah ich nun, dass noch mehr Menschen mit meinem und auch anderen Zügen mitfahren wollten. In allen Gängen und Räumen des Bahnhofs standen und hockten Menschen herum, sassen auf ihren Koffern, lagen wie vermummte Bündel auf dem Boden, füllten die rauchigen Wartesäle. Soldaten aller Dienstgrade bildeten die Hauptmasse, aber am meisten fielen schon die zahllosen Menschen auf, die von den Ausläufern des grossen Flüchtlingsstromes aus dem Osten hierher gespült worden waren.
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