Versorgungswichtige Dienstreise nach Leipzig im Februar 1945



Wenn einer eine Reise tut, so kann er heutzutage nicht nur was erzählen, sondern schon bald ein ganzes Buch schreiben. Dienstreisen nach Berlin oder Leipzig waren früher mehr eine Angelegenheit der Generaldirektoren, aber heutzutage, wo es weder Schlaf- noch Speisewagen noch telefonisch bestellte Hotelzimmer gibt, kommen auch einfachere Leute manchmal zu einem solchen Vergnügen.
Ich sollte am 19.2.1945 nach Leipzig fahren, um beim Mitteldeutschen Braunkohlensyndikat in Leipzig wegen Lieferung von Braunkohlenbriketts für unser Gaswerk zu verhandeln. Bestellt waren sie zwar schon und liefern würden sie uns die Leipziger schon, wenn sie könnten. Also hatte eigentlich die ganze Reise nicht viel Zweck, aber, sagte die Direktion, man muss sie eben machen, damit man später sagen kann, man hat wirklich alles getan, um den Betrieb aufrecht zu erhalten.
Am Samstagnachmittag besorgte ich mir Reiseerlaubnis und Fahrkarte im Hauptbahnhof und stand am Sonntagfrüh um ½ 7 Uhr am Oberhauser Bahnhof, denn ich wollte erst mit dem Personenzug nach Nürnberg fahren.
In der dunklen Halle des stark demolierten Bahnhofs erscholl plötzlich ein schneidiges Kommando:“ Volkssturm antreten, die Augen links, rührt euch!“ und siehe da, es war unser Arbeitskamerad Kreigl Toni, der nun dem Publikum die Wartezeit der ersten Verspätung mit munteren Weisen verkürzte. „Toni, wo hast die Harmonika ?“ fragte einer. „Die hat Schonzeit“ erwiderte der Toni, aber „Freut euch des Lebens, so lange es Magermilch gibt!“ schmetterte er dann los.



    



Drei Züge brachten mich nach Nürnberg. Im 2. nach Treuchtlingen kam ich auch ausnahmsweise dazu, mich meiner vorsichtshalber gekauften Karte zweiter Klasse (A.R.: damals gab es noch Wagen 3.Klasse) zu erfreuen. Das Abteil war voll von Offizieren aller Schattierungen, die schweigsam vor sich hinstarrten, und ein kleiner bärbeissiger Kriminaler prüfte die Ausweise. In Treuchtlingen wurde ein ganz leerer Zug, fast für mich allein hereingeschoben, aber mit der Zeit wurde er ganz voll und hatte boshafterweise gar kein Zweitklasseabteil! Kaum waren wir losgefahren, da kam auch der kleine Bullenbeisser wieder herein – bei dem alten dürren Oberst, der mir gegenüber sass, verzichtete er auf eingehende Prüfung der Papiere und mich kannte er auch schon, aber einen kleinen kümmerlichen Ausländer, der weder Ausweis noch Fahrkarte vorweisen konnte, beförderte er am nächsten Bahnhof raus.

Fränkisches Land zeigte sich in hohen Giebelhäusern aus Sandstein, in Föhrenwäldern, an deren sandigen Rändern Ginster und krüpplige Eichen wuchsen wie vor Jahrzehnten, und als dazu noch grosse Bombentrichter auf sumpfigen Wiesen auftauchten, wusste man, es kam das alte Nürnberg, meine Geburtsstadt. Das alte? Leider nicht mehr. Schon die Einfahrt in den Bahnhof war uns verwehrt, von Reichelsdorf wurde der Zug von der Lokomotive bis nach Sandreuth hineingerückt und dort drängte sich alles durch eine enge Pforte hinaus. Der alte Oberst war einigermassen verwundert, dass er seine 2 Köfferchen wer weiss wie weit schleppen musste, aber nach 20 Minuten konnte er doch in die Strassenbahn einsteigen.

Aber das arme Nürnberg selbst! In der Vorstadt sah es aus wie in allen Städten heutzutage, immer auf 5 ganze Häuser ein zerschlagenes, am Ring entlang zum Bahnhof war fast alles in Trümmern. Und auch die alten Befestigungen waren nicht verschont worden, die Mauertürme ihrer spitzen Hauben beraubt.
Am Bahnhof stieg ich aus, dort war das Bild fast noch das alte, wenigstens in den Umrissen.





    




Aber dann an der Mauthalle begann die Verwüstung: die Mauthalle selbst, deren gewaltiges Dach schon vor 2 Jahren dem Brand zum Opfer gefallen war, war jetzt nur noch ein Mauerrest, Steinhaufen links und rechts, wo früher alte Bürgerhäuser im Gewande moderner Geschäftshäuser gestanden hatten. Nürnberg hat in den letzten Jahrhunderten meist in Sandstein gebaut und so harren überall in seinen zerstörten Strassen grosse Quadersteine der Wiederverwertung, bald in wirren Haufen, bald um Weg zu schaffen, zu zyklopischen Mauern aufgeschichtet.
Die Lorenzkirche hat auf allen Seiten schwere Schäden – doch scheint es den Bomben bis jetzt fast noch nicht möglich zu sein, die erhabene Schönheit solcher grossen Dome völlig zu zerstören. Rings um die Lorenzkirche nur Ruinen, das hochstrebende Nassauerhaus eine leere Hülse. Überrascht der Blick im Norden: die Burg, sonst noch nie von hier zu sehen! Schon immer war sie die Bekrönung der alten Kaiserstadt, aber aus der Überbauung der Altstadt war sie nur an wenigen Stellen sichtbar. Heute taucht ihr Bild an vielen Stellen unerwartet über der Zerstörung auf.
Zwar nicht ganz in alter Schönheit – die alte Kaiserburg ist ausgebrannte Ruine, auch der hohe Kornspeicher der Kaiserstallung – aber doch in den gewohnten Umrissen. Der Gang hinab zum Herzen der Stadt gibt immer wieder Fragen auf, welche vertrauten Häuser einst hier und da gestanden haben, in der Königsstrasse, in der Kaiserstrasse, in der geschäftigen Plobenhofstrasse mit ihren grossen schönen Höfen. Seltsam, dass die alten Brücken über die Pegnitz noch erhalten geblieben sind. Strudelnd rinnt das Wasser um Trümmer.
Das Heiliggeistspital ist vernichtet, die schweren Bogen über dem Wasser stehen noch, aber es fehlt der vertraute Abschluss durch das rote Ziegeldach. Bange tastet sich der Blick zum Hauptmarkt. Die Frauenkirche ist eine leere Maske geworden, nur die Schale des Chors steht noch mit dem Türmchen, wo wir so oft mit Begeisterung die 7 Churfirsten um den Kaiser wandeln sahen. Und der Marktplatz, diese Perle der Stadt, ist eine Wüste. Kein einziger Giebel ragt mehr empor, kein Fenster, keine Türe – nichts als Trümmer und wahnsinnige Zerstörung. Die Häuser auf der Westseite scheinen in einen Abgrund gestürzt zu sein, so offen klaffen die tiefen Keller.
Nur der schöne Brunnen, auch schon totgesagt, ist noch gut erhalten. Man hat ihn




in ein dickes Mauerkleid gesteckt, aus dem oben wie eine seltsame Blume im Schutt die 2 Meter hohe buntbemalte Fiale emporragt. Noch ein einziges unersetzliches Kunstwerk sah ich wie durch ein Wunder erhalten: das Chörlein am Sebalder Pfarrhaus.
Vom Rathaus steht die mächtige Barockfassade noch fast ganz, ausgebrannt ist der grosse Saal und was sonst noch drinnen war, auch die neuen Rathausteile mit ihren hochragenden gotischen Schauseiten und ihren Beton- und Eisenkonstruktionen haben der Wut der schweren Bomben nicht standgehalten. Gegenüber neben der Sebalduskirche liegen runde Säulentrümmer am Strassenrand – aha, hier war die alte Hauptwache mit ihrer kettenumwehrten Terrasse. Das Bratwurstglöcklein mitsamt der Moritzkapelle ist spurlos verschwunden.
War der Gang durch die Altstadt schon traurig, so wurde er jetzt zu einem Gang durch das Reich des Todes. Schmale Pfade führten durch die Theresienstrasse zum Laufertor zwischen Trümmern und Steinhaufen, kaum ein Mensch war in dem trüben Licht des Wintertages zu sehen. Ein Blick zum Egydienberg hinauf zeigte die Kirche und das Gymnasium ausgebrannt, das beherrschende Pellerhaus verschwunden.
In der inneren Laufergasse erschrak ich plötzlich: wie kam Musik hier in dieses Totenreich ? Aber da lebten noch Menschen, ein ganz erhaltenes Haus, unten das Schild eines Photographen, drinnen ein Radio in Betrieb, als ob nichts gewesen wäre! Und vor dem geköpften Lauferschlagturm waren noch 3 erhaltene Häuser, in denen Menschen wohnten, ein Mädchen eilte mit einem Krug über die Strasse, wohl um damit Wasser am Fluss zu holen, wie seine Vorfahren vor 1000 Jahren.
Und auch sonst gab es im Trümmerfeld hie und da noch Zeichen von menschlichem Leben. Bergpfade führten zu Kellern oder stehen gebliebenen Hinterhausteilen und ein Luftschutzwart gab auf einem Zettel bekannt, dass er im Bunker am Laufertor wohne. Die 4 alten Tortürme von Nürnberg haben nämlich wieder wehrhafte Bedeutung erhalten, mit ihren 4 Meter dicken Mauern sind sie zu Luftschutzbunkern ausgebaut worden.
Vergebens wartete ich auf eine Strassenbahn nach Erlenstegen und musste mich entschliessen, meinen alten Schulweg zu Fuss fortzusetzen. Die alte Vorstadt, in der




ich meine Jugend verlebt hatte, lag auch in Trümmern,in der Bismarckstrasse konnte man an manchem Hause im Querschnitt den Gegensatz zwischen Sandsteinfassade und ordinärem Backsteingerippe feststellen. Das Schulzimmer, in dem ich voll Selbstbewusstsein in die erste Klasse eingetreten war, stand auch nicht mehr. Aber von dort ab war es dann zu Ende mit den Zerstörungen, manches war geändert seit den letzten 30 Jahren, manches gleich geblieben. So standen da auch noch die alten Schlösschen mit ihren langen Gartenmauern.
Freilich, der schöne sandsteinerne Torbogen war bei dem einen eingestürzt und das breite und kahle äussere Stück der Bismarckstrasse erweckte lebhafte Erinnerungen an die Gruppe alter Eichen am geheimnisvollen dunklen Tümpel, die einst dort gestanden war.
Um einmal in alten Pfaden zu wandeln, ging ich nicht rechts von der Pechfabrik die Strasse hinauf, sondern links den Fusspfad, der war wirklich noch ganz wie vor 35 Jahren und zog sich noch wie damals in grundlosem Bogen durch die Felder zum Steinplattenweg.
Um halb zwei traf ich bei meinen Schwestern ein. Die Wanderung durch Nürnberg hatte doch 2 Stunden gedauert.
Klara und Grete hatten gerade erst ihr Mittagessen fertig und trugen es vom 1.Stock nach unten, denn da es kein Gas gibt, müssen sie oben kochen, wo ein Kohlenherd steht. Grete hat oben 2 Zimmerchen mit ihren geretteten Sachen eingerichtet, es fehlen ihr nur Schränke, Schreibtisch und Büffet und sie ist sehr traurig, dass sie ihre schönen Stuben im Wohnheim verloren hat und dass sich niemand gefunden hatte, ihr die grossen Möbel herauszuschaffen, bevor der Brand langsam das ganze Haus verzehrte. Auch ihren Beruf muss sie jetzt aufgeben, denn nach diesen Zerstörungen ist es auch mit den Resten des Schulwesens in der Stadt bald vorbei.
Nun müssen sich die zwei Schwestern wieder etwas zusammenraufen und um das froh sein, was sie bis jetzt noch besitzen.
Nachmittag und Abend vergingen mit Gesprächen, Essen und Trinken und nachts um 12 Uhr machte ich mich wieder auf meine Reise.
Über Jobst, wo die Ruine des Kirchleins traurig gegen den Nachthimmel stand, wanderte ich die Sulzbacherstrasse hinein. Auf halbem Wege begannen wieder die




Trümmerstätten, noch viel unheimlicher im Dunkel der Nacht. Kein Laut als hie und da der Schritt eines einsamen Fussgängers – manchmal das hohe Dröhnen eines vom Wind bewegten Bleches, das wie eine riesige schwarze Fahne oben an dem alten Schulhaus langsam hin- und herwehte. Gegenüber unserm halbzerstörten neuen Gymnasium, auf dessen Giebel noch die römische Wölfin undeutlich zu erkennen war, plätscherte eine Quelle zwischen Steinen.

Dann der Weg am Graben entlang zum Bahnhof, dessen kahle und leere Hallen gegen dieses Inferno wohnlich erschienen, hier waren wenigstens noch Licht und ganze Mauern.
1 Uhr 45 sollte der Berliner Schnellzug abgehen und ich wunderte mich schon etwas, dass ausser einer Gruppe Flüchtlinge mit grossem Gepäck fast kein Mensch auf dem Bahnhof zu sehen war. Ich ging durch die Sperre – da rief mir das Knipsmädchen nach: „Hallo, sie wollen nach Leipzig, der Zug geht ja in Fürth ab – aber wenn sie laufen, kriegen sie vielleicht auf Bahnsteig 8 den Pendelzug noch, der sollte eigentlich schon weg sein !“ Nun, ich kriegte ihn noch, und der vollgestopfte Zug brachte mich mit 2 Aufenthalten nach Fürth.

Dort sah ich nun, dass noch mehr Menschen mit meinem und auch anderen Zügen mitfahren wollten. In allen Gängen und Räumen des Bahnhofs standen und hockten Menschen herum, sassen auf ihren Koffern, lagen wie vermummte Bündel auf dem Boden, füllten die rauchigen Wartesäle. Soldaten aller Dienstgrade bildeten die Hauptmasse, aber am meisten fielen schon die zahllosen Menschen auf, die von den Ausläufern des grossen Flüchtlingsstromes aus dem Osten hierher gespült worden waren.










    



Aus Ostpreussen, aus Schlesien, aus Posen, aus Polen – von überall waren sie mit den Resten ihrer geretteten Habe gekommen. Was man hier in Fürth sah, waren oft Menschen, die nach Kleidung und Gepäck zu schliessen den wohlhabenden Kreisen angehört hatten und wohl nach bestimmten Zielen, zu Bekannten oder Verwandten, fuhren. Meist waren es ganze Familien, der Vater mit dicken Aktentaschen an Riemen um die Schulter gehängt, vielleicht noch eine gerollte Decke drangebunden, die Mutter schob den Kinderwagen als Gepäckwagen, mit Koffern und Betten beladen, die halbwüchsige Tochter ein ähnlich bepacktes Fahrrad. Es gab auch viele Mütter mit kleineren Kindern, denen man die Strapazen der wochenlangen Reise ansah, man sah auch einfache Bauersleute und alte Mütterchen, die sich mit Kisten und grossen Säcken abschleppten.
Mit einem jüngeren Ehepaar aus Königsberg kam ich ins Gespräch, das seit 4 Wochen schon unterwegs war und nun zu seinen Kindern nach Plauen fahren wollte. Sie erzählten Grausiges von ihrer Flucht aus Königsberg zur See, die sie erst auf einem Dampfer und dann auf einem Zerstörer zurücklegten, von Sturm und eisiger Kälte auf dem Schiff, denen die kleinen Kinder jeden Tag zu Dutzenden zum Opfer fielen, von den Dampfern Wilhelm Gustloff und Memellland, die mit Tausenden von Menschen im eisigen Winter untergingen. (siehe Günter Grass "Im Krebsgang")
Zwischen diesen stückweise gebrachten Erzählungen wanderte man ruhelos in den zugigen Hallen des Bahnhofs umher, man lehnte sich an die Wände, man schaute wieder auf den Bahnsteig hinaus, wo 3 Schnellzüge angekündigt waren und nicht kamen. Plötzlich kam Bewegung in die schläfrigen Massen, der Lautsprecher draussen hatte irgendwas von dem Zug nach Würzburg gesagt und wer in diese Richtung wollte, drängte sich zum Ausgang. Aber es kam kein Zug, dafür entwickelte sich die halbverstandene Durchsage zu einem Rattenschwanz von Gerüchten. Keiner wollte zu spät kommen und da niemand durch die Sperre gelassen wurde, so kletterten plötzlich Massen von Menschen darüber und die Bahnpolizei hatte grössten Stimmaufwand nötig, sie wieder zurück ins Bahnhofgebäude zu bringen.
Unter solchen Unterhaltungen wurde es allmählich 5 Uhr morgens, und als man es schon kaum mehr glaubte, da stand auf einmal unser Zug da. Mit meiner 2.Klasse hatte ich wieder kein Glück, die war voll besetzt mit Offizieren. So begab ich mich in die dritte, wo es auch nicht wärmer war, aber fast leer. Bis zur Abfahrt wurde




allerdings auch hier das Abteil voll.
Im Lauf der Zeit erfuhr man so allerhand von Schicksalen: ein Mädchen war Nachrichtenhelferin, hauste mit vielen andern in der Kaserne in Augsburg-Pfersee und war jetzt gerade von Messerschmitt als Kurier irgendwohin in die Gegend von Berlin geschickt worden. Sie wollte sich erst mal bei Mutti in Berlin etwas rausfuttern, denn sie hatte für ihre Reise 12 Tage Zeit.
In Frankreich war sie mit vielen anderen von den „Amys“ geschnappt worden, aber die liessen als höfliche Männer die 60 Damen wieder laufen. Vorher schon waren sie in ganz enge Zusammenarbeit mit den Franzosen gekommen, da ihre Truppe wochenlang abgeschnitten war und sie in einem Lazarett verwendet worden waren, wo es wohl mehr Franzosen als Deutsche gab. Später dann in Polen mussten sie wieder ausrücken, und da ging ihnen ihr ganzes Gepäck verloren mitsamt dem LKW, auf den es geladen war.
Unter solchen Erzählungen wurde es langsam Tag, der Bamberger Bahnhof tauchte auf, mit etlichen Bombenlöchern, wir fuhren an dem Vorfrühlingshochwasser des Maines entlang, immer öfter musste der Zug in und vor den mit unzähligen Güterzügen, Truppentransporten und Lazarettzügen verstopften Bahnhöfen halten. Als wir die Höhe des Thüringer Waldes erklommen hatten, betraten neue Fahrgäste unser Abteil.
Ein älterer Unteroffizier erzählte von monatelangen Märschen aus Griechenland über den Balkan, ein Feldwebel, der laut Armbinde von einer SS-Polizeidivision war, berichtete von der letzten Kampfzeit in Ostpreussen. Dann kam die Wehrmachtskontrolle und beschäftigte sich eingehend mit allen männlichen Wesen und ihren Ausweisen.
In Thüringen kam der Zug in flotteres Tempo und die Landschaft fesselte wieder mehr unsere Blicke. Im Wald oben lag noch viel Schnee, an der Saale wurde es schon fast wieder grün, Jena, die freundliche Hügelstadt, überraschte durch den grotesken Schmuck zahlreicher Sperrballone, die sich teils träge über die Waldhügel erhoben, teils zwischen Landhäusern und Gärtnereien lagen. Dann wunderte ich mich plötzlich über die unzähligen Bombentrichter neben der Bahn, aber ein Blick rechts hinaus belehrte mich: Aha, das Leunawerk! So etwas von Zerstörung wie da nun auf




auf 4 km Strecke an uns vorüberzog! Die mächtigen Öfen, die dunklen Türme dieser modernen Burg standen wohl noch im Hintergrund, scheinbar unversehrt. Aber was sich da alles im Vordergrund drängte an Scherben und Eisentrümmern, an Kranen, Rohrleitungen, Gasbehältern, an zerrissenen Geleisen und verbrannten Wagen, an durchlöcherten und umgeworfenen Dächern – ein Chaos, das zu entwirren und wieder in nutzbringende Anlagen umzuwandeln als eine fast unlösbare Aufgabe erscheint! Wenn die anderen Benzinsynthesewerke auch so aussehen, dann ist es nicht verwunderlich, dass so wenig deutsche Flugzeuge in der Luft sind.
Direkt schön gegenüber diesen Verwüstungen sahen die mit Wasser gefüllten Bombentrichter aus in einer grossen Obstpflanzung dicht an der Saale – die kreisrunden Trichter im Rasen zwischen den Bäumen konnte man fast für neuartige Einfälle eines Landschaftsgärtners halten.
Bald nach dem Leunawerk fuhren wir in Halle ein. Der Bahnhof war in seinem Innern noch ganz neu und blitzblank, so recht unberührt vom Krieg. Flüchtlinge aus dem Osten, Soldaten aus allen Fronten beherrschten das Bild. Auf dem Bahnsteig Richtung Leipzig, wo ich eine Stunde auf den Anschluss wartete, stand neben einem General und seinem Obersten eine ganze Gruppe blutjunger Leutnants, die wohl frisch von der Kriegsschule zur Front rollten.
Dahinter tauchte eine Gestalt in abenteuerlicher Vermummung auf – scheckige Tarnjacke mit Pelzmütze, deren Ohrenklappen wie die Ohren eines afrikanischen Elefanten in die Höhe standen, in der Hand ein geschnitzter Knüppel – so stellte man sich wohl einen Polarkämpfer vor. Ein Verwundeter von der Front wurde geflissentlich von allen Uniformierten und Zivilisten als nicht vorhanden angesehen – so wenig passte er als Einzelerscheinung in das wenigstens äusserlich geordnete Bild dieses Bahnhofes: voll Schlamm bis an die Knie, mit zerrissenen Hosen, steckte er die verwundete Hand vorne in die schmutzige Tarnjacke, Feldkessel und eine Meldetasche hingen ihm als einziges Gepäck am Koppel, die langen blonden Haare flatterten ohne Mütze und das blasse, blutjunge, so müde Gesicht erzählte ohne Worte vom Grauen der Schlacht. Still und einsam sass er auf der Bank.
Die Landschaft zwischen Halle und Leipzig bietet wohl auch in guter Jahreszeit wenig Reisevergnügen, jetzt unter dem trüben Februarhimmel lag sie grau und eintönig,




nur selten belebt durch die Förderbrücken der Tagebaue im Hintergrund oder durch graue Dörfer und Fabriken. Bei einem kleinen Bahnhof mit dem bedeutungsvollen Namen „Grosskugel“ war wieder die Umgebung zerwühlt von Bomben, ein schöner roter Personenwagen lag zerfetzt neben den Geleisen.
Die gewaltige Halle des Hauptbahnhofes schien noch ganz erhalten, aber ohne das bei solchen Hallen sonst übliche geschwärzte Glas gab sie den Blick auf den Himmel frei, und der Querbau an ihrem Abschluss war unter der Wucht der Bomben völlig zusammengestürzt. Zwischen meterdicken Betontrümmern, ganzen Felspartien, führten Bohlenwege zum Ausgang, dazwischen Pfade und Treppchen zu unterirdischen Räumen. Die Vorderfront des Bahnhofs war noch ziemlich unversehrt bis auf die linke Schalterhalle, deren vordere Mauer eingestürzt war.
Der Eindruck, den ich, zum ersten Mal in Leipzig, beim Heraustreten aus dem Bahnhof hatte, war der einer grossen Öde. Ein weiter Platz, mit Anlagen im Hintergrund, umsäumt von hohen Gebäuden, die aber zum grossen Teil schon Ruinen waren; bunte Strassenbahnen, lärmende Lastfuhrwerke, ein Tunnel, der für die Fussgänger unter dem Bahnhofplatz weg zur Stadt gebaut war.
Durch eine staubige und unfreundliche Strasse fragte ich mich durch bis zum Nordplatz. Ich fand mein Ziel, das elegante Bürogebäude des Mitteldeutschen Braunkohlensyndikates. Beim Pförtner deponierte ich meinen Rucksack, der hier in Leipzig etwas aus dem Rahmen fiel, aber heutzutage auch für Geschäftsreisende das praktischste Gepäckstück war. Auf einer behaglichen Polsterbank in dem vornehmen Warteraum sass ich ein Viertelstündchen, bis ich den „zuständigen Herren“ sprechen konnte. Der Ton in dem Haus war mehr höflich als herzlich, und es lässt sich denken, dass man in der jetzigen Zeit mit neuen Kunden eines solche Grosssyndikats nicht viel Aufhebens machte und nichts weiter versprach als baldige Lieferung – wenn es eben möglich sei, und die Aussichten dafür seien recht schlecht, es sei durchaus kein Überfluss an Bahnwagen da, denn sie hätten in der vorigen Woche statt der geforderten 40 000 nur 28 000 Wagen gestellt erhalten.
Ein Rundgang durch Leipzig bestätigte mir den Eindruck von Öde und Traurigkeit, den ich schon beim Blick aus dem Bahnhof bekommen hatte. Die breiten Ringstrassen mit ihren pompösen Geschäftspalästen lagen still und verlassen




und überall mahnten Ruinen und Trümmer an den Verfall der einstigen Blüte. In der Leipziger Innenstadt gab es zwar nicht das Bild ganzer zerstörter Strassenzüge und Stadtviertel, wie in mancher anderen Stadt, aber fast überall, an den breiten Ringstrassen wie in den engen Gassen der Altstadt, klafften immer wieder Lücken und starrten Geschäftshäuser und Messepaläste, Museen und Universitätsgebäude als ausgebrannte Ruinen gegen den Himmel.
Auf dem weiten Augustusplatz häufte sich der Schutt, die Tritonen-Figuren des grossen Brunnens hingen wie erstarrte Fetzen fantastischen Lebens über den zerschlagenen Rand des Beckens.
Müde von der durchwachten Nacht suchte ich nach einem Plätzchen, wo ich in Ruhe die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges verbringen konnte. Der Pförtner beim Braunkohlesyndikat, bei dem ich meinen Rucksack wieder abholte, empfahl mir den zoologischen Garten, zu dem ich, einen kleinen Bach überquerend und an einer grossen ausgebrannten Fabrik vorbei, in wenigen Minuten kam.
Es war ein Saalbau, im Restaurant mit den grossen Fenstern fand sich bequem Platz. Da es erst 17 Uhr war, gedachte ich eine Tasse Kaffee zu trinken und dann gemütlich zu Abend zu essen. Aber bis der Kaffee gebracht und getrunken war und ich wieder nach der Speisekarte fragte, war schon alles gestrichen und es blieb mir von allen Leipziger Kochkünsten als einziges nur ein kleines Tässchen sogenannter Suppe zu kosten übrig, das es an Gehalt ruhig mit dem berühmten „Bliemchenkaffee“ (man sieht das Blumenmuster am Grund der Tasse!) aufnehmen konnte.
Die Kaffeehäuser waren in Leipzig seit gestern geschlossen, wie mir ein älterer Eingeborener erzählte, der sich an meiner Seite niederliess. In ihm lernte ich einen verhinderten Dichter kennen; das heisst er war nicht am dichten verhindert, sondern nur am Druck seiner Dichtungen. Es hatte ihn erst seit seinem 70. Lebensjahr gepackt, aber da gründlich, und da er mich in einem Buch lesen sah, fragte er mich gleich, ob ich nicht ein paar von seinen Gedichten lesen möchte, die er in einem umfangreichen Paket, sauber auf grosse Blätter geschrieben, an seinem Busen trug – „das grösste humoristische Gedichtwerk der Welt, 600 Gedichte, wenn es fertig ist!“ Ich las zwei der Machwerke, in denen sonderbare Einfälle mit falschen Reimen und ohne jedes Versmass – so wie kleine Kinder dichten – zusammengestoppelt waren.




Da ich mit meiner geistigen Unterstützung so sparsam war, schlug mir der tüchtige Herr Grahm ein anderes Geschäft vor: gegen eine Fleischmarke gab er mir ein Mäppchen mit Fotopostkarten ab, wie er sie in seiner vordichterischen Zeit herausgegeben hatte. Das zweite Mäppchen dagegen „Weimarer Erinnerungsstätten“ liess ich ihm gerne, denn so banale und ohne jeden Sinn für Bildwirkung aufgenommene Postkarten waren das Mitnehmen wirklich nicht wert. Auf jeden Fall habe ich mich mit dem Mann ganz gut unterhalten, über Bilder (er hatte früher vor allem in Tiergärten sehr viel fotografiert), Bücher und seine Verhandlungen mit den Verlegern. Erst als allerletzte in dem hinteren Teil des Saales räumten wir unsere Plätze, nachdem der Kellner längst die Stühle auf die Tische gesetzt und das Licht abgedreht hatte.
Der Zug kam, 3 oder 4 Leute drängten sich heraus, 30 hinein – zentimeterweise musste von denen der Raum erkämpft werden und um einen Rucksack, für den sich durchaus kein geeignetes Plätzchen finden konnte, entspann sich ein erbittertes Rededuell, das wohl nur deshalb nicht zu Tätlichkeiten führte, weil der eine Kampfhahn drinnen und der andere draussen eingekeilt war. Es muss gesagt werden, dass die Deutschen die geduldigsten Menschen der Welt sind. Je dreckiger es ihnen geht, je mehr sie zusammengedrängt, misshandelt und als lebendige Ware behandelt werden, desto besser schicken sie sich darein und man merkt wenig mehr von dem früheren Hang zur Kritik und Schimpferei. Was wurde doch sonst geschimpft, wenn einmal ein Zug eine halbe oder gar eine ganze Stunde Verspätung hatte, und wie ist heute jeder froh, wenn er überhaupt noch mitgenommen wird und irgendwann an sein Ziel kommt – ganz abgesehen von den Millionen, die heute fahren müssen, ohne ein Ziel zu kennen!
Jedenfalls, auf 1 1/2 Füssen stand ich bei der Abfahrt, knickte in der ersten halben Stunde hie und da einschlafend zusammen und lernte in den folgenden Stunden die verschiedenen Schlafkünste moderner Schnellzugreisender anwenden. In der zweiten halben Stunde sass ich auf der scharfen Kante des 10 cm breiten Heizungskastens und packte meine Wolldecke zwischen die Knie und die gegenüberliegende Abteiltür, um nicht abzurutschen, als nächste Stufe ergatterte ich die Hälfte eines kleinen Klappsitzes im Seitengang, und schliesslich konnte ich mich für den Rest der Nacht als Alleinbesitzer dieses Sitzes betrachten.



Den Kopf mit dem Hut gegen die Wand gepresst, konnte man da wunderbar schlafen, ohne durch jeden Ruck des Zuges vom Sitz geworfen zu werden. Natürlich musste man alle Augenblicke wieder einmal den Kopf erheben, wenn jemand dringend durch den Wagen wandern musste aufs WC oder wenn das umfangreiche Gepäck aussteigender Flüchtlinge durch den Gang hinausgeschleust wurde.
Zweimal gab es langen Aufenthalt in völligem Dunkel, zuerst in Weissenfels, dann hoch oben im Thüringerwald, und jedes Mal lauschte alles in bangem Schweigen auf das Brummen der Viermotorigen und das ferne Dröhnen der Detonationen. Erlöst atmete alles auf, wenn endlich der Zug wieder weiter fuhr.
Langsam zog der Tag herauf, in der Gegend, wo die Bahnlinie vom Waldgebirge ins Maintal hinabsteigt, und wieder gab es Aufenthalt über Aufenthalt auf der Strecke. Hie und da stieg jemand aus, man bekam etwas mehr Bewegungsfreiheit, mit der zunehmenden Helligkeit begann man auch Gesichter und menschliche Gestalten zu erkennen und es kam Ordnung in das nächtliche Chaos des Wagens. Die junge Frau aus Berlin fand sich wieder zusammen mit ihren beiden Kindern, welche die ganze Nacht auf verschiedene Abteile des Zuges verteilt gewesen waren und allmählich begann alles zu frühstücken.
Am Fenster hinten packten der dicke Herr mit dem markanten Kopf und seine hochnäsige Frau aus prächtigen Lederkoffern und Taschen grosse Aluminiumdosen mit dicken Butterbroten und einem halben Dutzend Eiern aus. Die Leute wurden allmählich auch gesprächiger, der Wiener Hauptmann erzählte von dem, was er hinter der schlesischen Front gesehen, der kleine Herr von dem, was er als Führer einer motorisierten Gendarmerieabteilung auf dem Rückzug von Litzmannstadt erlebt hatte, der ältere Mann mit der straffen Haltung, in Joppe, Mütze und hohen Stiefeln und seine verhärmte Frau von der Flucht von ihrem Gut irgendwo hinter Posen.
Fürchterliche Dinge bekam man da zu hören: von der Flucht der Tausenden auf den vereisten Landstrassen, zu Fuss mit Sack und Pack, von dem Jammer der Mütter, die ihre Kinder ohne Nahrung und ohne warme Getränke verhungern und erfrieren lassen mussten, von dem Elend der Trecks im grimmigen Oststurm, von den stürzenden Pferden und zerbrochenen Fahrzeugen, von den 3, 4, 5 Kolonnen, die nebeneinander eine Strasse zu benutzen versuchten und sich dabei unlösbar ineinander verrannten,




von den Tieffliegern, die sich auf die verstopften Strassen stürzten, von der Ungewissheit über die Lage, ob der Feind vor oder hinter einem war. Manchmal kam plötzlich das Gerücht „ im nächsten Dorf stehen schon die russischen Panzer“ und die Anführer (soweit es solche überhaupt noch gab) wurden vor die schwierigsten Entscheidungen gestellt.
„Die Autokolonnen bewegten sich überhaupt nur in kleinen Rucken vorwärts, manchmal kam man in einer Stunde nur einen oder zwei Kilometer vorwärts“ erzählte der Polizeiführer, „aber keine Minute durfte man vom Steuer weg, wenn man nicht unrettbar aus der Kolonne in den Graben gedrängt werden wollte. Ganz schwierig wurde es, als ich meinen Wagen wegen einer ganz unbedeutenden kleinen Panne abschleppen lassen musste (reparieren konnte man natürlich nicht die geringste Kleinigkeit). Stundenlang musste ich noch mehr aufpassen als vorher, aber schliesslich habe ich den Wagen doch aufgeben müssen: erst wurden ihm die Kotflügel verbeult, dann die Reifen zerrissen und die Räder verbogen und schliesslich fuhr mir noch ein Panzer, der aus einer Seitenstrasse kam und nicht mehr bremsen konnte, mit seinen Kanonen durch die Karosserie – ein Glück, dass hinten niemand sass, sonst hätte es noch Tote gegeben!“
In Fürth, wo wir so gegen 10 Uhr einliefen, konnten allmählich diejenigen in die Abteile einrücken, die schon seit 8 Stunden Anwärter auf einen Sitz gewesen waren. Etliche Leute stiegen aus, endlich bekam ich auch einen Sitzplatz
Vorsichtig tastete sich der Zug über Ringbahngeleise zur Hauptstrecke weiter und ich hoffte schon, mich nach dem Mittagessen ins Bett legen zu können. Aber – schon um ½ 11 Uhr standen wir auf einem hohen Bahndamm und kamen nicht mehr weiter. Dreiviertelstunden waren schon vergangen – ich hatte kurz vorher festgestellt, dass wir ja mitten auf der hohen Brücke bei Georgensgemünd standen und dass das eigentlich ein sehr geeigneter Platz für Tieffliegerangriffe wäre – da hörte man etwas brummen, ein Offizier und noch ein paar Männer, die ausgestiegen waren, schauten eine Weile neugierig in unsere Fahrtrichtung und plötzlich rannten die draussen, der Offizier voran, die hohe Böschung hinunter und versteckten sich hinter dem Widerlager der Brücke.
Aha, Fliegerangriff! Und nun stürzte sich alles aus dem Zug und zu beiden Seiten des Dammes, auf beiden Ufern des kleinen Flüsschens hinunter in die Gegend. Natürlich



dauerte das eine gewisse Zeit – dass die Fenster alle nicht mehr zu öffnen waren, hatten wir schon früher festgestellt, als man gerne Gepäckstücke herausgereicht hätte – und so konnte ich schon beim Hinablaufen 15 einmotorige Jäger zählen, die da in mässiger Höhe herumkurvten. Ein Glück, dass sie anscheinend anderes vorhatten und sich nicht um unsern Zug kümmerten!
Unten angekommen, stand ich erst mit andern unter der Brücke – aber das hohe steinerne Widerlager bot ja nur nach einer Seite Deckung, so zog ich mich lieber allmählich weiter am Ufer des Flüsschens entlang, wo man sich notdürftig in sandigen Mulden zwischen Weidenbüschen decken konnte. So unvorsichtig war ich doch nicht wie eine ganze Anzahl Leute, die sich unter ein paar dürftigen Büschen und Bäumchen auf halber Höhe des Dammes in Sicherheit glaubten – ganz abgesehen von etlichen, die den Zug überhaupt nicht verliessen und sich das Gewimmel interessiert aus den Fenstern ansahen.
Nach 5 Minuten der Aufregung verschwanden die Jäger, aber aus dem Dörfchen auf der anderen Talseite riefen die Buben herüber: „Kampfverbände im Anflug!“ Also blieb man drunten. Ein Glück, dass es für Mitte Februar schön warm war und man vor der Flucht gerade noch an den Mantel gedacht hatte. Und richtig, nach einer Weile dröhnte es mächtig über den Wolken und wieder etwas später hörte man es in der Richtung, aus der wir gekommen waren, dumpf donnern und sah, wie die Bomber ihre Rauchzeichen abwarfen, die zuerst weissglänzend ihre Bahn nach unten zogen und dann lange Zeit unbeweglich wie schwarze Negative von drohenden Blitzen stehen blieben. Das Dröhnen verstummte, der Angriff auf Nürnberg war vorüber. Die Aufregung legte sich, die Lokomotive stiess ein halbes Dutzend mahnende Pfiffe aus – es sollte wieder weitergehen und man setzte sich in die Polster, froh des neugewonnen Platzes. Aber es dauerte verdächtig lange und auf einmal hiess es: „Neue Bombenverbände im Anflug!“
Wieder stürzte sich alles die Dämme hinab, ein Koffer kollerte blitzschnell über die Böschung hinunter, die dicke Frau keuchte wieder mit ihrer Steppdecke den schrägen Pfad am Hang entlang. Ich suchte mir diesmal einen Platz neben einem trockenen Bewässerungsgraben mitten auf der Wiese, bereit, mich bei jedem verdächtigen Geräusch in den Dreck zu werfen. Zum Glück war das nicht nötig, aber für die




nächste halbe Stunde kam ich kaum dazu, einen Blick vom Himmel wegzuwenden. Ein fantastisches Schauspiel entwickelte sich da.
Über uns standen hohe helle Wolken, Flecken von hellem Himmmelsblau dazwischen, im Süden niedrig die Sonne und aus ihrer Richtung schoss plötzlich ein Bündel von weissen Strichen pfeilgleich über einen der blauen Flecke. Ein anderes Pfeilbündel, in etwas anderer Richtung, folgte, ein drittes, breiteres schwang sich in weiten Bögen durchs Gewölk, die Spitzen der ersten Pfeile hatten fast die Höhe des Gewölbes erreicht, da erkannte man die dunklen Umrisse der Bomber. Sonderbar, erst ein ganzes Stück hinter der feinen Spitze des weissen Striches! Der Kondensstreifen beginnt doch sonst erst hinter dem Flugzeug – erst allmählich merkte man, dass auch ganz vorne noch eine Maschine flog, fast unsichtbar glitzernd vor dem blauen Himmel. In Rudeln zu 20, 30 Stück schossen sie über uns weg, wohl 200 im ganzen, und bemalten binnen einer Viertelstunde den ganzen Himmel mit ihren breiten Streifen und tödlichen Bögen. Im Süden, von der in Wolken halbverschleierten Sonne herab, standen wie der Dreifuss dieses Hexenkessels drei Schattenbalken, geworfen von den 3 Hauptstrassen der Geschwader.
Gespannt starrte alles nach oben, ob wohl einer der Todesschwärme auch unsern Zug auf seiner Brücke zum Ziel auserkoren hätte – aber nein, es zog alles vorüber, und wieder vernahm man in der Ferne das Schiessen, sah die Rauchzeichen und später eine gewaltige Brandwolke über der alten Reichsstadt. Man begann wieder erleichtert dem Zuge zuzustreben – da erscholl rasches Brummen in der Nähe. Jäger! Vier von den bösen Vögeln tauchten südwärts auf, flogen Kurven hin und her, der eine verschwand aufheulend hinter dem Wald, der zweite auch, man hörte Maschinengewehrfeuer und den dumpfen Krach einer Bombe, dann verschwanden sie alle 4 und alles atmete erneut auf, dass sie – unglaublicherweise – wieder unsern Schnellzug nicht gesehen hatten!
Nun aber – es war 2 Uhr geworden – wäre es allmählich Zeit zum Weiterfahren! Alles sammelte sich wieder am und im Zug, doch das Einzige, was man bestimmt erfuhr, war, dass die Bahn keinen Strom hatte, weiter wurde allmählich bekannt, dass ein paar Kilometer südlich die Strecke durch einen Bombenwurf unterbrochen sei. Leute brachten dann die Information, es würde in 1 oder 2 Stunden eine Dampflokomotive von Nürnberg kommen, unsern Zug bis vor Nürnberg zurückzuschleppen und über

Ansbach-Treuchtlingen umleiten.
Nun also hatte man Zeit, alles verstreute sich noch mehr durch die Gegend und vom hohen Bahndamm aus, wo ich mich in der Sonne niederliess, war das ein recht friedliches Bild, wie sich die Leute da drunten ergingen in dieser Dürerlandschaft mit ihren Giebelhäusern hinter dem kleinen Flüsschen, über das sich vom Wiesengrund ein schmaler Steg hinüberschwang und das von einer grossen Herde Gänse belebt war. Leute, die wohl in irgend einer kleinen Fabrik gearbeitet hatten, stiegen in unsern Zug ein, weil sie sich von ihm eine Fahrgelegenheit in Richtung Nürnberg erhofften.
Fahrgäste unseres Zuges kamen enttäuscht aus dem Ort zurück, weil sie das Wirtshaus geschlossen gefunden hatten, andere hatten mehr Glück gehabt und kamen mit Wurst und grossen Brotlaiben wieder. Ich spazierte auch ein wenig durch das stille Dorf. Erneutes Flugzeuggeräusch, man hörte auch ein paar M.G.-Schüsse. Ich stand noch eine Weile oben neben der gewaltigen Elektrolokomotive herum, der Lokführer, in Gestalt und Haltung seiner Maschine ähnlich, erklärte uns einige technische Dinge – im Übrigen sei er solche Aufenthalte schon lange gewohnt und lasse sich nicht aus der Ruhe bringen. Ob es heute noch weitergehen würde, das sei noch sehr zweifelhaft.
Schon bald nach dem 2. Angriff hatte er sich geäussert, wenn er ein Passagier mit wenig Gepäck wäre, so würde er es vorziehen, zu Fuss die 10 km nach Pleinfeld zu laufen. Und da allmählich der Nachmittag verstrich und die Aussicht, noch eine zweite Nacht in dem an sich ganz behaglichen, aber doch recht überfüllten Polsterabteil zu verbringen, nicht verlockend war, so entschloss ich mich schliesslich auch wie mehrere andere Fahrtgenossen, meinen Rucksack auf den Buckel zu nehmen und zu tippeln. Um ½ 17 sagte ich dem Schnellzug Lebewohl, spazierte durch den kleinen Bahnhof Georgensgemünd und wanderte durch das stille, waldige Tal südwärts, zusammen mit 2 Männern, die ihre Koffer am Stock auf der Schulter trugen. Die Bahnstrecke war kilometerweit mit Güterzügen besetzt, eine einzelne Dampflok eilte auf dem freien Geleise südwärts. Bei einem kleinen Dorf verschwand die Strecke rechts von uns im Wald, nur hie und da sah man den hohen Damm zwischen den Bäumen. Wo war wohl in dieser friedlichen Gegend die Bombe gefallen ? Da, neben der Strasse Eisentrümmer, mit Resten elektrischer Leitung daran, Erdbrocken




Baumäste – weit weg „Ho-Ruck“-Geschrei der Hilfsmannschaften, eine Lokomotive war von der Bombe zerrissen worden, ein braver Eisenbahner getötet und einer verletzt.
Wir eilten weiter, denn es wurde schon recht dämmrig. Wie schön wäre es, in einer der grossen Mühlen mit ihren hohen Sandsteingiebeln ein stilles Nachtlager zu finden! Meine Wandergenossen suchten bei einem erleuchteten Wirtshaus an einsamer Wegkreuzung nach etwas zu trinken, ich eilte weiter und wurde bald überholt von einem Pferdegespann, das in ruhigem Zotteltrab ein halbes Dutzend Fahrgäste von unserm Zug die Strasse entlang führte. Schnell den Rucksack raufgeworfen – für mich selber war nicht mehr Platz – und dann in halbem Trab immer hinter dem Wagen her, gerade in einem solchen Abstand, dass er in der Dämmerung nicht verschwand.
Endlich Pleinfelden, aber so gross war dieser Ort und die Bahn war allmählich so hoch am Hang hinaufgeklettert, dass wir noch eine ganze Weile bis zum Bahnhof brauchten. Es war dunkel, als wir anlangten und natürlich war der Zug gerade vor einer Viertelstunde weggefahren. Doch sollte der nächste bald kommen und etwa um ½ 10 Uhr nach Treuchtlingen fahren. Der Wartesaal war öde und leer, die Wirtschaft geschlossen, doch liess sich die Wirtin erbitten, etliche Tassen Kaffee herauszurücken, hauptsächlich wohl aus Mitleid mit einem alten Mütterchen.
Wir warteten doch auf den nächsten Zug, der auch richtig um 1/2 10 Uhr einlief. Der Wartesaal füllte sich plötzlich mit Menschen, die nicht mehr weiterfahren konnten, wir eilten hinaus, um den Zug wieder zu besteigen.
Aber man liess uns nicht durch die Sperre, wir warteten, bis uns die Kälte wieder ins Haus trieb. Da hatten wir nun unsere schönen Sitzplätze verloren, ein Münchner machte sich auf zu Verhandlungen mit der Bahnbehörde und kam mit dem tröstlichen Ergebnis zurück, dass der Zug um 11 Uhr abfahren sollte. Endlich liess man uns hinein und da wir nicht viel mehr als ein Dutzend Fahrgäste waren, konnte sich jeder eine ganze Bank nehmen. Ich zog mir die Schuhe aus, wickelte mich in meine Decke und war bald entschlummert.
Plötzlich draussen grosses Getöse: die Tür wird aufgerissen und herein drängen sich 7 Männer, die sich sehr freuen, den Zug gerade noch erreicht zu haben, mich von meiner schönen Ruhestatt auftreiben und sich, nachdem sie zum sitzen gekommen



sind, 7 Zigaretten anstecken. Es schienen Offiziere in Zivil zu sein, und sie waren mit etwa 100 anderen in einem Lastauto mit Anhänger durch dickes Schneetreiben von unserm Schnellzug gekommen. Da war es nun vorbei mit meiner schönen Nachtruhe, aber als ich auf die Uhr schaute, konnte ich feststellen, dass es 12 Uhr war und nicht 11 Uhr, und dass ich also schon eine ganze Stunde lang gelegen war – die einzige allerdings in diesen 3 Reisenächten.
Eine halbe Stunde später waren wir in Treuchtlingen und mussten wieder raus. Der Wartesaal war schön warm, aber das war das einzig Schöne an ihm; wie überall sass alles dick voll Menschen, meist uniformierten, und ich fand schliesslich einen unbequemen Sitzplatz hoch auf dem blechernen Schanktisch. Nach einer Stunde wurde ausgerufen „Alles in den Schutzraum, Fliegeralarm!“ und brav begab sich alles in die engen Schutzräume. Die waren wohl ganz ordentlich eingerichtet, aber viel zu klein für die vielen Leute und jeder war froh, als nach einer halben Stunde die Entwarnung kam.
Ich klettere wieder auf meinen Schanktisch, auf dem schon der Länge nach ein uniformiertes Mädchen lag und sanft schlummerte. Hinter mir sass ein Soldat, an den ich mich hie und da sanft anlehnte in der Meinung, so eine gegenseitige Stütze müsste auch ihm nicht unangenehm sein. Aber er protestierte und behauptete, ich würde ihn vom Tisch hinunterschieben; also versuchte ich wieder, gerade zu sitzen, die Füsse auf die hin- und herschaukelnde Schranktüre gestützt. Ich begann zu träumen und zu schwanken, aber gerade rechtzeitig fasste ich doch noch den Entschluss, mich freiwillig von meinem hohen Sitz in eine sicherere Gegend zu begeben und setzte mich unter den Tisch, nachdem ich, um Platz für die Beine zu schaffen, die Schranktüre geöffnet hatte. Also, nun konnte ich schlafen, ohne herunter zu fallen – alles war still, bis auf den Bahnbeamten, der hie und da hereinkam und einen Schnellzug ankündigte, Richtung Berlin, umgeleitet über Ansbach-Würzburg, oder ähnlich – aber erst um 5 Uhr rief er den ersehnten Zug aus Würzburg, Richtung Augsburg – München aus.
Draussen die kühle Schneeluft liess einen erst merken, in welch fürchterlichem Menschendunst man 3 Stunden zugebracht hatte. Im Zug konnte ich meine neu erworbenen Schlafkünste im Seitengang wieder anwenden und im grauenden




Morgen zu meiner Überraschung die eingeschneiten Flugzeuge von Gablingen sehen und mich erst beim Anblick von Gersthofen überzeugen, dass diese Fahrt wirklich ihrem Ende zuging. Eine Stunde hatte der Zug von Treuchtlingen gebraucht, ganz fahrplanmässig, nachdem die Fahrt von Leipzig bis Treuchtlingen für mich 25 Stunden Verspätung ergeben hatte.
Jetzt war ich wieder daheim, hier gab es eine Strassenbahn, die mich durch den Schneematsch nach Hause brachte, ein warmes Bad und, oh Wonne, ein herrliches Bett! Damit war diese Reise zu einem glücklichen Ende gebracht.



























dreifels ag