30 - Der Tag eins


Das war der Tag des E i n z u g e s.
Alle Vier fuhren frühmorgens in die Stadt, denn es war noch viel vorzubereiten. Für ein Uhr mittags war der Wagen versprochen und bis dahin musste alles verpackt und zum Verladen bereit sein.
Nochmals wurden die Listen kontrolliert, Hedwig hatte am Abend vorher noch die Masse von Türen und Fenstern genommen und stellte im letzten Augenblick fest, dass Karls grosser Schreibtisch weder durch die Türen noch durchs Fenster ins Haus zu bringen war – also musste er bleiben, wo er war. Glücklicherweise hatten sie noch einen kleineren, der genau um einen Zentimeter schmäler war als die Zimmertür. Auch das Sofa war ein recht grosser Brocken, aber wenigstens liess es sich noch durch das Fenster ins Haus bringen.
Aber mitten im grössten Trubel kam um elf Uhr noch eine wichtige Person an, die sehr nötige Dinge mitbrachte: Tante Grete, die schon lange aus der Ferne das Bau- und Siedlungsprojekt mit brennendem Interesse verfolgt und mit Rat und Tat dazu beigetragen hatte. Sie war Karls älteste Schwester, mit 65 Jahren eben pensionierte Handarbeitslehrerin, klein und rundlich, aber energiegeladen bis dorthinaus und von starken Fürsorgeinstinkten besonders für ihre Nichten erfüllt.
In ihrem Koffer und in einer grossen Handtasche brachte sie gut verpackt eine alte Petrol-Küchenlampe mit blankem Messingreflektor mit – leider ohne Zylinder, aber den gab es wider Erwarten in Erling. Ein weiteres Prachtstück, eine Petroleum-Tischlampe, die vor 45 Jahren die Schwestern ihren Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten, als die Familie damals ebenfalls in ein neues Haus weit draussen vor der Stadt auf freiem Feld einzog. Die Stehlampe im schönsten Jugendstil, mit einem säulenartigen Fuss aus braunem Naturstein und Metallguss, war stark




patiniert; der bauchige, glasige Ölbehälter geschmückt mit goldumrandeten roten Blumen und der gläserne Schirm bemalt mit Fuchsien in naturalistischer Manier.


Petrollampe der Vorfahren um 1900


Karl vermochte das gute Stück nicht ohne wehmütige Wiedersehensfreude anzusehen, besonders wenn er der zahlreichen Schulaufgaben gedachte, die er im Schein der Lampe gemacht hatte.
Die junge Generation staunte über das vorsintflutliche Gerät, liess sich aber schliesslich überzeugen, dass es bestimmt viel besseres Licht geben würde als die aus den Kriegszeiten aufgesparten Kerzen, mit denen man sich bis jetzt in dem neuen Häuschen notgedrungen begnügt hatte.
Tante Grete ihrerseits besah sich alles genau und hatte ihre Augen überall. Die Zeit verging schnell mit Umzugsvorbereitungen, mit Plaudern und Erzählen, aber der Möbelwagen kam nicht, und Tante Grete wie auch Ilse befürchteten schon ernstlich, dass man heute gar nicht mehr fertig werden würde mit dem Umzug. Aber endlich kam der Holzvergaser mit seinem Anhänger doch an, um drei statt um ein Uhr. Bald waren die beiden Planwagen von den stämmigen Packern voll beladen.




Zuletzt wurde hinten auf den Anhänger das grüne Sofa gesetzt, die Mädchen kletterten flink hinauf und zogen Ilse nach, die Tante brauchte eine etwas kräftigere Nachhilfe durch Karl und zwei Möbelpacker und sank stöhnend auf das Sofa. Christof und Hedi wollten mit den Rädern fahren, aber der freundliche Kraftfahrer fand auch für sie und ihre Vehikel noch ein Plätzchen auf dem Lastzug. Karl nahm neben dem Fahrer als Lotse Platz.
Dann wurde der Holzgas-Generator frisch beschickt und durchgestochert, das Gebläse eingeschaltet und nach 1o Minuten Heulen, nach einigem Qualmen und etlichen donnernden Fehlzündungen setzte sich die Arche ruckweise in Bewegung.


Holzvergaser-Auto



Langsam kroch der Lastzug die lange Landstrasse hinauf, dann überquerte er die Bahn – nicht bei den Fabriken, wo man sonst mit den Rädern fuhr, sondern einen Kilometer weiter südwärts, wo der Bahnwärter verwundert auf die seltsame Fuhre schaute, die da so mitten in völlig unbewohnte Gebiete hineinsteuerte – holpernd und schaukelnd und schliesslich im Buschwerk verschwindend.
Endlich war man da, um siebzehn Uhr begann das Ausladen und um achtzehn Uhr war man schon damit fertig und alles, die grossen wie die kleinen Möbel, war ausgeladen und sorgfältig im Haus aufgestellt.




Einzig das grosse Sofa hatte etwas Schwierigkeiten gemacht, denn es ging nur durchs Fenster hinein und gerade vor diesem Fenster war ja der tiefe Graben! Also mussten Karl und Christof erst mal ein Gerüst bauen, damit man das Sofa hinaufheben konnte – dann schafften zehn kräftige Männerarme das Problem spielend.
Den Möbelpackern machte die Hütte in der Wildnis Spass, mancher von ihnen beneidete die Familie Korn um dieses friedliche Nest. Sie nahmen die Brotzeit und den Apfelsaft dankbar an, auch das tarifmässig ihnen zustehende Trinkgeld und die als Geldersatz in jener Zeit angeblich unentbehrlichen Zigaretten, für welche die umsichtige Tante Grete gesorgt hatte.
Dann schüttelten sie allen zum Abschied die Hand, wünschten recht viel Glück im neuen Haus und schaukelten mit ihren leeren Fahrzeugen davon.
Da schauten Eltern und Kinder einander an: jetzt haben wir es geschafft! Das war der langersehnte Augenblick, heute war der
Tag "EINS" eines neuen Lebens!



Das Haus umschlungen von der Natur







Auf eigenem Grund im eigenen Haus, trotz Weltkrieg und Bombenterror, trotz Bewirtschaftung und Besatzung, Mangel und Elend!
Dieser Augenblick brauchte eine Stunde des Besinnens – keine feierlichen Worte und Handlungen waren dazu nötig, hatte man ja durch viele Jahre hindurch übergenug bekommen von den grossen leeren Worten und von dem lauten Getöse hohler Trommeln.

Jetzt war endlich die grosse Stille eingetreten – nicht einmal die Hände reichten sie einander im Kreise, nur die Eltern lehnten sich gerührt aneinander.
Eine ganze Weile standen sie so ganz still, dann aber spürte man die Müdigkeit in den Knochen und den Staub auf der Haut – flink warfen alle die Kleider ab und spülten im frischen Wasser des Baches Müdigkeit und Staub ab. Es war fast eine heilige Handlung diesmal, wenn sie auch in Spritzen und Lachen endete:
Die Taufe derer, die in ihrem Lande wieder Wurzeln geschlagen hatten.
Auch die beiden jungen Gäste durften sich zu den Getauften rechnen, und die Tante wusch sich Hände und Füsse in den fliessenden Wellen und dachte wehmütig an ihre eigene Jungend und so manchen Traum, der nicht Wirklichkeit geworden war.
Nach dem Bad sass man, das Mahl geniessend, unter den Bäumen in der Runde – „gleich nach der Taufe das Abendmahl“ lächelte Karl vor sich hin – danach räumten die Frauen im Häuschen noch dies und jenes ein, was zum Schlafen nötig war, die Männer setzten sich nebeneinander auf die Bank vor der alten Hütte und genossen den Feierabend.
Nach einer Weile gingen sie hinein, denn die Nacht sank herab. Kein Lüftchen rührte sich in den Bäumen, die Sonne, feurig rot, war im bleiernen Dunst versunken.
Karl und Ilse traten nochmals vor das Haus hinaus, es zog sie in die magische Stille und an den rauschenden Fluss.
Rot ging der Vollmond im Osten auf, stieg rasch höher und liess die Wellen des Flusses silbern erglänzen.
Ilse sah zu Karl auf: “Ist er nun erfüllt, dein grosser Traum?“
„Gibt es das – Erfüllung? Ein neuer Tag ist heute und jeden Tag!“








ENDE










dreifels ag