18 - Der Persilschein


Die im vorigen Kapitel geschilderte beschauliche Tätigkeit gab Karl wohl allerhand soziologische Einblicke und auch Anregungen für seine eigene Zukunft, aber sie genügte natürlich nicht, einen Menschen wie ihn auszufüllen.
Das wichtige Problem war doch, das eigene künftige Leben in die richtigen Bahnen zu leiten!
Was Karl und die Seinen im Frühjahr geschaffen hatten, das hat schon der Auszug aus seinem Tagebuch geschildert.
Der Sommer brachte dann den ersten Lohn der Arbeit: vor allem einen Zuschuß zu der ach immer noch so knappen Ernährung – Tomaten, Gurken, rote Rüben und Zuckerrüben, Erbsen, Buschbohnen, ja sogar der so köstliche Zuckermais waren auf den frischgerodeten Flächen gut gediehen. Freilich gab es auch mancherlei Raubtiere in diesem neuen Garten Eden: die Vögel holten die paar Johannis- und Erdbeeren, die Monika wochenlang sorgfältig gezählt hatte, die Rettiche und Radieschen wurden als winzige Sämlinge von den Erdflöhen aufgefressen, der Salat kam nicht hoch vor lauter Schnecken, und die schon hochgewachsenen Stangenbohnen wurden nach und nach fast alle von unbekannten Übeltätern scharf über dem Boden abgebissen.
Also der Lohn für die Arbeit war für dieses Jahr zwar ganz angenehm, aber materiell fiel er noch nicht sehr ins Gewicht. Um so mehr aber waren es die Sonne und die körperliche Tätigkeit auf dem eigenen Land, was die Familie allen Widrigkeiten gegenüber aushalten und an Kräften, äußeren wie inneren, zunehmen ließ.
Hie und da hatte Karl bei seinen Wohnungsaufnahmen Gelegenheit zu sehen, wie es den anderen entlassenen Beamten erging:
die saßen da am Küchentisch in irgend einem Hinterhaus, wußten nicht, wie sie die Zeit totschlagen sollten und schimpften, verfluchten Stalin und Hitler und Truman,




Gott und die Welt – wie gut gings Karl dagegen! Er freute sich, daß seine Abszesse unter den Achseln und die Zellgewebeentzündungen an den Beinen der beiden Mädchen schließlich doch noch schön ausheilten. Und wie schön war es, wenn man wieder draußen im Garten und Wald arbeiten konnte!
Freilich waren sie vom Juli an meist nur noch drei, denn Hedwig ging zu einem Bauern in ein kleines Dorf, 25 km von der Stadt entfernt. Nachdem sie auf ihrem Webrahmen sämtliche erreichbaren alten Kleider und Strümpfe zu Fleckerlteppichen verarbeitet hatte, fand sich immer noch keine Gelegenheit zu einer Berufsausbildung. Sie hatte daheim in der Stadt kaum etwas zu tun, und die Mutter ihrerseits wußte oft kaum, wie sie die vier hungrigen Mäuler satt kriegen sollte. Monika hingegen konnte wieder in die Schule gehen, und in der freien Zeit entwickelte sie sich immer mehr zur Gartenliebhaberin. Sie brachte von da und dort Stauden und Sommerblumen mit, einmal machte sie sogar eine kleine Reise zu den Tanten nach Nürnberg und holte Goldrauten, Herbstastern, Lupinen, Akelei und sogar ein kleines Pfirsichbäumchen.

Erholung am Wasser







Draußen wurde dann wieder gepflanzt, gehackt und gejätet und das Wasser zum Gießen aus dem Bach geholt. Dazwischen sprang man wieder einmal selbst ins Wasser und legte sich am Ufer in die Sonne. In der Ferienzeit kamen dann auch wieder einzelne von den alten Freunden und man schwamm miteinander im Fluß. Manchmal kamen auch wieder Faustball und Tennisringe zu Ehren. Aber das war selten, denn immer noch hatte jeder viel mit sich selber zu tun. Man mußte vor allem für den Winter vorsorgen, in dem man nicht mehr so frieren wollte wie im vorigen.
Holz gabs ja genug hier draußen. Das Unterholz im Fichtenwald wurde gefällt, in der Hecke waren ein paar stattliche Pappeln hochgewachsen, die ebenfalls fallen konnten, und sonst konnte noch an allen Ecken ausgelichtet werden.
Fünf Ster Brennholz waren es schließlich, die ein Holzgas-Laster in die Stadt brachte, nachdem er als einzig frei käufliches Baumaterial sechs Quadratmeter Solnhofer Kalkplatten-Abfälle herausgefahren hatte. Das Holz, zu Hause schön in einem Gartenhäuschen des herrschaftlichen Parks aufgestapelt, versprach ein ordentlicher Zuschuß zu den spärlichen Kohlen zu werden.

Brennholzstapel





Karl hatte auch dafür gesorgt, daß aus dem jetzt so bescheidenen Fabrikationsprogramm der großen Maschinenfabrik, die einst die halbe Welt mit Druckmaschinen und Dieselmotoren versorgt hatte, ein neuer Küchenherd in sein Haus kam. Daneben stellte er zur besseren Erwärmung noch ein kleines Kanonenöfchen, irgendwo aus Privatbesitz ergattert. Schließlich entdeckte er in einem großen Schlafsaal der ausgebrannten Taubstummenanstalt (aus der auch der gute Tee stammte) einen mächtigen eisernen Ofen. Es gelang ihm, diesen rechtmäßig zu erwerben und mit Hilfe der ganzen Belegschaft einer ehemals sehr renommierten Herd- und Ofenfabrik auf einem Handkarren in den großem Schlafsaal zu schaffen und mit acht Meter Ofenrohr an den Kamin anzuschließen. Diese Anschaffung erwies sich allerdings später als eine Fehlinvestition insofern, als der grosse Ofen, ein einziges Mal angeheizt, in einem Tag einen Zentner Koks, also einen halben Monatslohn, verbrauchte, ohne den Riesenraum fühlbar zu erwärmen. Also beschränkte sich Familie Korn für den Rest des Winters auf die Erwärmung des Wohnzimmers mit seinen zwei Feuerstellen, und auf die heißen Ziegelsteine für ihre Betten.
Das im vorigen Winter noch fast ganz leere Haus war nun voll bewohnt. Im Erdgeschoß waren noch drei Parteien untergebracht, lauter hinausgeworfene Nazis – das brachte eine gewisse Temperaturerhöhung mit sich, allerdings auch mancherlei Reibungsflächen. Das Schlimmste war für Karl, wenn er jeden Monat die auf seinen Namen ausgeschriebene Stromrechnung auf vier Mietparteien verteilen mußte, von denen mindestens drei – wenn man ihren Versicherungen glaubte – so gut wie keinen Strom verbraucht hatten.
Daß es auch sonst Probleme gab, darf nicht verschwiegen werden. Zunächst einmal mußte man sehen, wie man wieder im Wirtschaftsleben den gebührenden Platz finden konnte, sei es an seinem früheren Arbeitsplatz, sei es sonst wo. Die Hoffnung auf das Erstere hatte Karl fast aufgegeben, denn ein Jahr nach der Entlassung war gerade erst das Verfahren bei der neugebildeten "Spruchkammer" langsam in Gang gekommen. Besuche beim Vorsitzenden dieser Kammer ergaben, daß man noch lange warten mußte. Sie informierten Karl auch darüber, daß er von irgend einem radikalen Betriebsrat nicht etwa als harmloser "Parteigenosse" und Mitläufer, sondern als Aktivist und gefährlicher Nazi angesehen worden. Warum? Weil er




Werkluftschutz-Leiter gewesen sei und als solcher einen schroffen Feldwebelstil an sich gehabt habe (der sanfte und von Natur aus eigentlich recht schüchterne Karl lachte innerlich , als der Ankläger ihn das lesen ließ) und weil er bei der Verbrennung der Reichsbank-Akten (Akten! Die hatte der Weg durch die verschiedenen Niederschriften aus Aktien gemacht!) als treuer Gefolgsmann seines Werkleiters brav mitgemacht habe!
Karl Korn, der als ein richtiger Deutscher immer noch viel von beschriebenem Papier hielt, klopfte alsbald auf seiner Schreibmaschine eine Erwiderung auf diese albernen Anschuldigungen zusammen und schickte sie an die Spruchkammer – aber noch nicht gleich, denn zuerst mußte er ja die "Persilscheine" haben, von denen Herr Trometer damals gesprochen hatte.
Also begab er sich zu diesem, um ihn beim Wort zu nehmen. Der Hausherr öffnete ihm selbst die Tür, machte aber diesmal keine deftigen Scherze, sondern führte ihn stumm ins Zimmer. Karl fragte, wie es ginge – nicht nur so als Redensart hingeworfen, sondern aus wirklicher Teilnahme.
"Mir geht’s gut, das sehen sie," brummte der Tierarzt.
"Und ihrer Frau?"
"Auch gut, aber nicht ganz so gut wie mir!"
"Das tut mir aber leid, wo fehlts ihr denn? Und die Kinder?"
"Dem Richard und der Gerti geht’s auch gut."
"Und der Margareth?"
"Die haben wir gestern verbrannt."
"Verbrannt? Verbrannt, was soll das heißen?"
"Ja, verbrannt sag ich, im Krematorium! Gestorben ist sie, vor vier Tagen, hingemacht haben sie's im Krankenhaus, die Deppen dort – die haben ja keine Ahnung von Diagnose und Behandlung –"
Trometer ließ dem erschütterten Karl keine Zeit zu Beileid und solchen Formalitäten, sondern polterte weitschweifig seine Wut über die Ärzte heraus, die offenbar die Krankheit zu spät richtig erkannt hatten, der die zarte, lang aufgeschossene Neunzehnjährige zum Opfer gefallen war. Frau Trometer war indessen still und mit verweinten Augen herein gekommen, und Karl sagte ihr mit einem Händedruck und




mit wenigen gestammelten Worten, wie leid es ihm tat, daß gerade sie ein so nettes und liebes Kind hatte verlieren müssen. Die Tränen kamen ihm, denn er mußte an seine eigenen Kinder denken.
"Und wie gehts denn ihnen und ihrer Familie?"
Karl berichtete das Neueste und kam dann auf seinen Wunsch zu sprechen betreffend Fürsprache bei der Spruchkammer. Das war so was für Trometers Herz, er ließ sich das Formblatt geben, fragte, was besonders hervorgehoben werden sollte und bestellte Karl für den nächsten Tag wieder her, das Papier abzuholen.
Karl ging danach mit dem gleichen Anliegen noch zum Pfarrer Zeisig und zum alten Otto, denn diese beiden alten Lichtfreunde waren weder Partei- noch Karteigenossen gewesen und infolgedessen bestens befähigt, etwas zu seiner Reinwaschung beizutragen.
Am anderen Tag ging er wieder zu Trometers. Der Weg führte ihn am Güterbahnhof entlang, wo man schon seit Wochen das Schauspiel beobachten konnte, wie Tausende von Menschen ankamen, die man nur wegen ihrer Volkszugehörigkeit von Haus und Heimat vertrieben hatte; mit den kärglichen Resten ihrer Habe, wie das Vieh in Güterwagen verladen. Hier wurden sie nun ausgeladen und auf die Dörfer und kleinen Städte verteilt, wo man sie teils voll Mitleid, teils mit mehr oder minder verhülltem Widerwillen aufnahm. Immer neue Scharen trafen ein, aus dem Sudetenland, aus Schlesien, aus Ungarn, und die Behörden wußten kaum mehr, wo sie diese Massen notdürftig unterbringen und verpflegen sollten – von Arbeit und menschenwürdiger Wohnung gar nicht zu reden!
Trometer hatte den Persilschein schon fertig bereitliegen, Karl überlas mit Befriedigung seinen Inhalt.
"Obs was hilft, ist die andere Frage," meinte Trometer, "wir müssen eben alle unsere Strafe kriegen – sie, weil sie ein Parteigenosse gewesen sind und ich, weil ich keiner gewesen bin – die Russen, weil sie Russen sind, die Franzosen, weil sie Franzosen sind, die Juden, weil sie Hebräer sind – alles egal, wie es kommt, so kommt es!"
"Ja, so ists, mein lieber Herr Trometer; ich hab mir auch schon manchmal meine Gedanken gemacht über Schuld und Sühne – und speziell über die bösen Parteigenossen. Bestraft müssen sie alle werden –"
"Sie sind aber ein scharfer Richter!"




"Ja, das bin ich – sie wissen doch auch, was das schlimmste Übel im Leben der Völker ist..."
"Die Dummheit, die Dummheit ohne allen Zweifel!" "Also, die Dummheit! Neunzig Prozent von den Parteigenossen müssen für ihre Dummheit bestraft werden –"
"Und die anderen zehn Prozent?"
"Neun Prozent für ihre Feigheit –"
"Bleibt immer noch ein Prozent!"
"Null komma neun Prozent für ihre Schlechtigkeit ..."
"Ja, einer von Hundert ist immer ein Lump – aber sie rechnen ja sehr genau, es bleibt immer noch ein Zehntel Prozent übrig?"
"Ja, jeder Tausendste vielleicht müßte freigesprochen werden, weil er sich mit dem Nationalsozialismus nur getarnt und im geheimen für die Menschlichkeit gearbeitet hat."
"Gibt es solche? Ich muß mich besinnen – ja, ich glaube, es hat solche gegeben, aber sie werden wohl meistens nicht mehr leben!"
"Nicht viele hats gegeben – einen weiß ich, der vielleicht ein solcher war."
"Wer ist das?"
"Nicht hier in der Stadt – er hat unseren Verein geleitet, und wir waren viel mit ihm zusammen."
"Und wie geht’s ihm jetzt?"
"Umgekommen, nach dem Krieg im russischen Zuchthaus!"
Eine Weile Schweigen.
"Und zu welcher Kategorie soll man sie nun rechnen, sie alter Nazi?"
"Was für eine Frage. Halten sie mich für einen schlechten Menschen, oder für einen Dummkopf? Oder gar für einen erfolgreichen Widerständler? Jeder ist sich selbst der Nächste – und Frau und Kinder potenzieren diese Nähe! Also, duck dich, Volksgenosse!"
"Korn, sie sind ein herrlicher Mensch – und der einzige unter den hinausgefeuerten Beamten bei der Stadt, der sein Schicksal mit Würde trägt, das hat mir neulich euer Stadtwerksboß im Vertrauen gesagt – also, lassen sie sichs weiter gut gehen, und Gruß an die liebe Frau Gemahlin, die ist noch tüchtiger als sie! Addio!"




dreifels ag